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als Ausländer lebt es sich in der Volksrepublik China oftmals sehr angenehm. Zumindest als Staatsbürger einer großen Industrienation. Die Annehmlichkeiten und Privilegien gehen so weit, dass man glatt vergessen könnte, wo man sich aufhält: nämlich in einer der brutalsten Diktaturen der Welt. Durch das Bürofenster in Shanghai oder vom Rücksitz eines Dienstwagens kann schnell der Eindruck entstehen, dass autoritäre Politik vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie es ihre Kritiker immer behaupten.
Sicher hat jeder Ausländer schon irgendwelche chinesische Schauergeschichten gehört, in denen Menschen- oder Bürgerrechte schwer verletzt worden sind. Doch über dem T-Bone-Steak im Restaurant am Bund entwickeln die Schicksale hinter diesen Geschichten wenig Beigeschmack. Ihr Echo hallt aus den vermeintlichen Untiefen der Volksrepublik, um die Chinas Modernisierung einen großen Bogen gemacht hat. Zwar erreichen sie auch den zivilisierten Teil des Landes, aber sie kommen von so fern und sind so leise, dass sie die hektische Lautstärke der gesellschaftlichen Zentren unmöglich übertönen.
Und dann kommt der Lockdown. Plötzlich sind auch die Ausländer von drastischen Einschränkungen der persönlichen Freiheit betroffen. Sie spüren den Verlust der eigenen Souveränität gegenüber dem Staat, der sie so behandelt, wie er seine eigenen Bürger behandelt, wenn es um seine Kerninteressen geht. Er nimmt keine Rücksicht auf Nationalitäten, geschweige denn Befindlichkeiten. Die Diktatur rückt den Gästen des Landes, die sich weit weg wähnten vom autoritären Wesen, hautnah.
Wir haben mit Betroffenen gesprochen, deren China-Bild in sich zusammenbrach, als der Lockdown begann. Sie alle sind schockiert und fassungslos. Sie haben erkannt, dass eine Diktatur immer nur ein erzwungener Kompromiss sein kann zwischen Staat und seinen Bürgern. Dass es eigene Erfahrungen benötigt, um das festzustellen, kann man niemandem vorwerfen. Dass man jenen, die diese Erfahrungen in der Vergangenheit schon gesammelt haben, nicht so recht glauben mochte, dagegen schon.
Marcel Grzanna

Analyse
Der Diktatur plötzlich ganz nah

Marcel Grzanna
In weniger als drei Wochen hat sich das China-Bild der 19-jährigen Lisa aus Münster komplett gewandelt. „Ich muss meine Meinung grundlegend revidieren. Ich habe die Kritik an diesem politischen System immer für völlig übertrieben gehalten. Jetzt bin ich fassungslos, was es tatsächlich bedeutet, in einer Diktatur zu leben„, sagt die junge Frau, deren chinesische Eltern bereits vor Jahrzehnten aus Shanghai nach Deutschland ausgewandert waren, um der autoritären Politik der Volksrepublik zu entfliehen.
Lisa wuchs in Deutschland mit Meinungsfreiheit und im Rechtsstaat auf. Dennoch wollte sie die Warnungen ihrer Familie vor der Unnachgiebigkeit der chinesischen Staatsführung nie so recht für bare Münze nehmen. Auch deshalb ging sie vor wenigen Monaten guter Dinge nach Shanghai, um ihre Mandarin-Sprachkenntnisse auf Vordermann zu bringen.
Als sich der Lockdown Ende März anbahnte, entschied sie sich, auf die chinesische Urlaubsinsel Hainan zu fliehen. Das bewahrte sie jedoch nicht vor einem positiven Coronavirus-Test. Schon seit mehr als zwei Wochen befindet sich Lisa deshalb in einem Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Sanya in Quarantäne. „Ich fühle mich hier völlig hilflos, der Willkür von Behörden ausgesetzt und ohne Schutz der Privatsphäre„, sagt sie im Gespräch mit China.Table. Sie habe den Entschluss getroffen, die Heimat ihrer Eltern und Großeltern schnellstmöglich zu verlassen und in Zukunft nicht mehr in China leben zu wollen.
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