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Qian Sun – Blick in alle Richtungen

Qian Sun ist Journalistin.
Qian Sun arbeitet als Freie Journalistin und für den chinesischen Staatssender Phoenix TV.

Qian Suns Arbeit ist ein Balanceakt. Denn die gebürtige Nordchinesin arbeitet als Investigativ-Journalistin in Berlin und für das chinesische Fernsehen. Für Phoenix TV, einen mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Fernsehsender aus Hongkong und Shenzhen, erklärt sie den Chinesen etwa die großen Linien der deutschen Politik. Kleinteiliger wird es, wenn Sun ihrer Tätigkeit als freier Investigativ-Journalistin nachgeht, etwa mit Recherchen zu Chinas Bauprojekten in Afrika. Diese Balance zwischen offiziellen Narrativen und tiefschürfender Recherche sei nicht immer einfach, wenn man wie sie aus einem autoritären Land komme, betont Sun: „Man muss das Risiko abwägen: Bist du bereit, deine eigene Familie in Gefahr zu bringen?“

Als Investigativ-Journalistin versucht Sun ihr persönliches Risiko zu minimieren, zum Beispiel mit Pseudonymen. Aber auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen fühle sie sich einigermaßen sicher. Denn sie sei keine Aktivistin, sondern eine Beobachterin, erklärt sie. „Ich will dokumentieren, was passiert und was die Leute fühlen.“ Für den Balanceakt, den sie vollzieht, würde sich Sun aber generell mehr Verständnis wünschen, auch von ihren deutschen Kollegen.

Aufgewachsen im Wandel

Und sie rät ihren Kollegen, nach China zu fliegen und Chinesisch zu lernen. Sie selbst war seit drei Jahren nicht mehr in ihrer Heimat und merkt, wie leicht man ein Land entmenschliche, wenn man es nur von außen betrachte. „Das ist sehr gefährlich. Man muss die Emotionen der Chinesen verstehen, um darüber berichten zu können.“ Sie beansprucht für sich, beide Seiten zu verstehen: den chinesischen Blick auf Europa und den europäischen Blick auf China. Dabei hilft ihr, dass sie ihren Master in Global Studies und International Communication 2011 an der Universität Leipzig gemacht hat.

Sun wächst in den Achtzigerjahren in der Provinz Shanxi auf und erlebte die finalen Jahre der chinesischen Planwirtschaft. Und sie wird als Jugendliche Zeuge der wirtschaftlichen Öffnung, die auch bei ihrer Familie ankommt und den Lebensstandard schnell erhöht. In dieser Zeit zeigt Sun exzellente Ergebnisse bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) und entscheidet sich, Sportjournalismus in Beijing zu studieren.

Von Chinas junger Generation erstaunt

Praktischerweise stehen die Olympischen Spiele 2008 vor der Tür, bei denen die sportbegeisterte Sun als Freiwillige hilft. „Ich habe mich riesig auf die Spiele gefreut und man konnte spüren, wie stark China geworden ist.“ Suns Begeisterung weicht jedoch schnell der Langweile, denn so richtig gebraucht werden die Massen an jungen Leuten nicht. Doch ihrer Liebe zum Sportjournalismus hat es keinen Abbruch getan. So oft es geht, berichtet sie noch heute von Sportereignissen, etwa über die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele.

Und auch Chinas wiedergewonnene Stärke betrachtet sie keinesfalls als Strohfeuer. Im Gegensatz zu Sun damals wächst Chinas junge Generation heute in einem selbstbewussten Staat auf. Chinas Schwäche hätten diese jungen Menschen nie kennengelernt, erklärt Sun. Und dennoch: Die Pandemie, die harten Lockdowns und die Proteste haben an diesem Bild der Stärke genagt. Und auch Sun hat ihren Blick verändert: „Ich hatte einen unzutreffenden Eindruck von der jüngeren Generation. Einige von ihnen sind viel kritischer und unabhängiger, als ich dachte.“ Jonathan Lehrer

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