„Handel und Werte sind kein Gegensatz“

Kristin Shi-Kupfer über Handel und Menschenrechte in Xinjiang
Kristin Shi-Kupfer, Sinologie an der Universität Trier und Senior Research Fellow am Merics

Frau Shi-Kupfer, am 5. Juli jährt sich der Tag der gewaltsamen Zusammenstöße von Uiguren und Han-Chinesen in Urumqi zum elften Mal. Für die muslimische Minderheit der Uiguren in Xinjiang verschlechtert sich ihre Lage seit Jahren. Die G7-Staaten haben sich dennoch erst bei Ihrem letzten Treffen darauf geeinigt, die Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen. Warum fällt das den westlichen Regierungen so schwer? 

Da sind die unterschiedlich intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen, die einzelne Länder mit China haben, allen voran Deutschland. Dann gibt es unterschiedliche Einschätzungen, inwiefern Sanktionen die Lage in Xinjiang überhaupt verbessern. Und: Wird ein solches Vergehen negative Auswirkungen auf Verhandlungen zum Beispiel in Bereichen wie globale Gesundheitspolitik oder Klimapolitik haben, wo man ja explizit mit China zusammenarbeiten möchte? Schließlich dürfte die zuletzt sehr in den Mittelpunkt gerückte Frage, ob es sich bei dem Vorgehen Chinas in Xinjiang um einen Genozid handelt, auch eine frühere konzertierte Stellungnahme erschwert haben. 

Und? Handelt es sich um einen Genozid?

Einige nationale Parlamente und auch namhafte Experten haben Chinas Vorgehen als solches bezeichnet. Schaut man sich die entsprechende UN-Konvention an, dann gibt es dort einige Kriterien, die erfüllt sind, etwa Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten oder auch Zufügung schwerer körperlicher und seelischer Schäden. Aus meiner Sicht scheinen die Repressionen gegen Uiguren und andere ethnische Minderheiten nicht auf deren physische Eliminierung und Tötung, sondern auf eine Vernichtung und Brechung ihrer Identität abzuzielen. 

Was ist aus wissenschaftlicher Sicht bekannt über die Lage in Xinjiang?

Angefangen von Satellitenbildern, über geleakte Dokumente der chinesischen Behörden, bis hin zu jede Menge Zeugenaussagen von Betroffenen, die von mentaler und physischer Folter berichten, gibt es eine Reihe gesicherter Quellen. Inzwischen haben auch chinesische Aufseher und Lehrer ausgesagt, die bezeugen konnten, dass Menschen in Internierungslagern verschwanden und nicht wieder aufgetaucht sind. Und wir haben die Studien des Wissenschaftlers Adrian Zenz (China.Table berichtete).

Zenz ist nicht nur von chinesischer Seite, sondern auch von einer Reihe westlicher China-Kenner für seine Studien heftig kritisiert worden.

Völlig zu Unrecht. Seine Studien sind absolut solide. Viele seiner Erkenntnisse hat er auf Basis von chinesischen Dokumenten minutiös ausgewertet, die Lokalbehörden im Internet publiziert haben. Wie glaubwürdig seine Quellen sind, zeigt sich auch am Verhalten der chinesischen Regierung. Sie hat ihre Äußerungen nach und nach angepasst und immer mehr davon auch zugegeben.

Was die geleakten Dokumenten betrifft, so sagt Beijing hauptsächlich, die Lage würde verzerrt dargestellt. Folter und Zwangssterilisationen bestreitet die chinesische Führung. Aber dass China Internierungslager betreibt, bestreitet sie nicht mehr grundsätzlich. Ihre Vertreter begründen solche Maßnahmen unter anderem mit Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus. Zwischendurch behauptete Beijing auch, diese Lager dienten der beruflichen Fortbildung. Was die Fakten angeht, so hat die chinesische Regierung mehr und mehr zugegeben, immer wenn etwas öffentlich geworden ist. Aber die Interpretation unterscheidet sich. 

Die zentrale Frage ist doch: In welchem Ausmaß? Die Zahlen der inhaftierten Uiguren schwanken zwischen 100.000 und einer Million. 

Verschiedene Studien haben die erstmals von der UN im August 2018 formulierte Schätzung von rund einer Millionen unabhängig voneinander bestätigt, als prozentualer Anteil (10 Prozent) an der uigurischen Bevölkerung in Xinjiang (rund 11 Millionen) auf Basis von lokalen Daten. Später wurden auch Angehörige anderer Minderheiten in diesen Lagern festgehalten. Die genaue Zahl festzustellen, ist wohl unmöglich. Das Ausmaß kann und sollte man aber nicht nur quantitativ bemessen.

Schockierend ist, mit welcher Systematik die chinesische Führung die Unterdrückung der Uiguren und anderer ethnischer Minderheit plant und vorantreibt: Die Größe der Lager, die auf Satellitenbildern zu sehen sind. Die Budgets, die auf lokaler Ebene für Überwachungstechnologien ausgegeben werden. Das Alltagsleben ist schon seit Jahren sukzessive eingeschränkt und wird überwacht. Die eigentlich in der chinesischen Verfassung zugesicherte Freiheit der Ausübungen von anerkannten Religionen, wie auch der Islam eine ist, wird massiv behindert. Überall auf den Straßen sind Checkpoints eingerichtet und Überwachungskameras installiert. Xinjiang ist ein digitales Labor, in dem ein ganzes System an Sicherheits- und Überwachungstechnologien ineinandergreift. 

Elektronische Überwachung findet doch in ganz China statt. 

Überwachungskameras mit Gesichtserkennung, großangelegte Datenspeicherung und auch menschliche Beobachtungsmaßnahmen – ja, all das findet in ganz China statt. Doch in Xinjiang sind die Maßnahmen systematischer und auch invasiver. Einzelne Datenbanken sind sehr viel mehr integriert und Menschen werden flächendeckend gezwungen Überwachungsapps auf Handys zu installieren. Die Kontrollmaßnahmen in Wohnvierteln oder auch Supermärkten ist etwas, was auch manchen Han-Chinesen in Xinjiang zu weit geht. 

Wie sollten Staaten auf China reagieren, die sich zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet haben?

Ein konzertiertes Vorgehen ist immer am wirkungsvollsten. Ich halte auch die neuen EU-Sanktionsmechanismen für richtig. Die EU sanktioniert einzelne Verantwortliche für die Vergehen in Xinjiang und sendet damit ein deutliches Signal, ohne gleich ein ganzes Land und seine Bevölkerung an den Pranger zu stellen.

Was sicherlich auch hilfreich wäre, sich in der öffentlichen Kritik an China noch viel stärker auf die vorliegenden, konkreten, vor allem auch die chinesischen Dokumente, und die internationale Rechtsnormen wie die verschiedenen UN-Konventionen etwa gegen Folter, rassistische Diskriminierung oder auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu berufen. Chinas Führung hat diese ratifiziert und verletzt sie somit. Diese verpflichtenden Normen gelten für China genauso wie für andere Länder. Diese Auskunft halte ich auch gegenüber der chinesischen Bevölkerung für wichtig. Denn sonst bekommen viele den Eindruck, die Maßnahmen richteten sich per se gegen ihr Land.

Die chinesische Regierung hat dann immer leichteres Spiel, den Nationalismus anzufachen à la: „Die westlichen Länder wollen, dass es in Xinjiang unruhig bleibt, dass weiter terroristische Anschläge stattfinden, so dass sie China in seiner Entwicklung klein halten können.“ Für eine wirkungsvolle Politik gegenüber der chinesischen Regierung müssen allerdings auch die Unternehmen, flankiert von Regierungen, ihre Rolle in der Region kritisch reflektieren und Konsequenzen ziehen.

Nun tut sich angesichts der guten wirtschaftlichen Beziehungen gerade die Bundesregierung schwer mit allzu scharfer Kritik an China.

Keine Frage, wirtschaftlich sind Deutschland und China eng miteinander verflochten. Allerdings warne ich vor der Schlussfolgerung, Deutschland sei zu abhängig von China und könne sich deswegen keine an klaren Prinzipien orientierte Politik erlauben. Wie verschiedene Studien, unter anderem auch die von dem Mercator Institut für Chinastudien, belegt haben, greift diese Darstellung zu kurz. Es sind einzelne Branchen und Firmen, die zu einem hohen Maß vom Handel mit China profitieren. Die Haltung von Kanzlerin Merkel, die chinesische Führung bloß nicht zu sehr zu brüskieren, um andere Kooperationsmöglichkeiten nicht zu verbauen, ist weder gegenüber Beijing überzeugend, noch zielführend für die eigenen Interessen. 

Wie soll eine künftige Bundesregierung das den deutschen Unternehmen erklären, die in China Bomben-Geschäfte machen?

Dieser vermeintliche Gegensatz – Handel auf der einen Seite, Prinzipien und Werte auf der anderen – ist keiner. Im Gegenteil: Es geht um Rechtsstaatlichkeit, als Grundpfeiler eines transparenten Interagierens. Verlässliche Strukturen und Planungssicherheit sind auch für Wirtschaftsakteure wichtig. Die chinesische Regierung hat aber mit einer Reihe von Gesetzen, jüngste Beispiele sind das Gesetz gegen ausländische Sanktionen oder auch das Datensicherheitsgesetz, seine Zugriffsmöglichkeiten auf Unternehmen und Institutionen auch im Ausland in einer Art und Weise ausgeweitet, die für wirtschaftliche Akteure zunehmend unberechenbare Folgen haben können. Hier sollten Firmen dringend genauer hinschauen. Mein Eindruck ist aber, dass bei mehr und mehr Unternehmern ein Nachdenken in Bezug auf ihr Engagement in China stattfindet und sie sich in anderen Regionen nach Alternativen umschauen, etwa im indopazifischen Raum. 

Dass Volkswagen auf Drängen der Führung ein Werk in Urumqi errichtet hat als Gegenleistung für Genehmigungen für zwei weitere Werke im boomenden Osten Chinas, war also eine falsche Entscheidung?

Es ist mehr als fragwürdig von VW oder auch anderen Unternehmen entweder zu sagen: „Wir wissen nicht genau, was dort passiert.“ Oder zu argumentieren: „Wir prüfen alles umfassend und fragen gegebenenfalls bei den chinesischen Behördern nach, wenn einer unser uigurischen Mitarbeiter nicht auftaucht.“ Ein solches unabhängiges Monitoring lässt sich in Xinjiang aus meiner Sicht nicht gewährleisten. 

Ist China nicht wirtschaftlich so stark, dass es ihm egal sein kann, was die USA oder die Europäer sagen?

Wie der Westen über China denkt, hat in Peking schon noch großen Einfluss. Die Gegensanktionen, die China gegen EU-Politiker und Wissenschaftler verhängt hat, und die ganze Forschungseinrichtungen gleich miteingeschlossen haben, sind nicht gerade ein Zeichen der Stärke, sondern ein Verteidigungsgebaren – zumal es offensichtlich auch Risse innerhalb der politischen Eliten Chinas in Bezug auf die Politik in Xinjiang gibt. Den geleakten Dokumenten konnten wir entnehmen, dass in Xinjiang auch einige Kader verhaftet worden sind, angeblich wegen Korruption, einige aber auch wegen mangelnder Loyalität. Das weist daraufhin, dass es innerhalb der weiteren politischen Elite Stimmen gibt, die mit dem Vorgehen in Xinjiang ebenfalls nicht einverstanden waren. Die chinesische Regierung bangt zudem um ihr Image und die Gelegenheit sich zu inszenieren mit Blick auf die Olympischen Winterspiele im kommenden Jahr. Im Westen werden ja bereits Boykott-Aufrufe laut. 

Aber trifft das die Führung noch? Schließlich ist Peking 2022 nicht mehr das Peking der Olympischen Sommerspiele von 2008, als China wirklich noch um die Gunst der Außenwelt buhlte. 

Ich denke, es trifft sie auch weiterhin. Es gibt auch innerhalb des Landes Stimmen, die sich ein freiheitlicheres, gerechteres und damit weltoffeneres China wünschen. Manche Stimmen warnen auch vor zu viel Gegenwind der liberalen Demokratien, weil dies China den Zugang zu Technologien und Märkten erschwert. Vertreter von Unternehmen wie Huawei oder Alibaba, die global expandieren wollen, haben selbst zugegeben, dass es nicht immer von Vorteil ist, ein chinesisches Unternehmen zu sein. Xi Jinping ist darauf angewiesen, all diese Interessen zu berücksichtigen. Meines Erachtens ist er nicht der allmächtige Führungspolitiker, für den ihn viele halten. 

Kristin Shi-Kupfer, 46, ist Professorin für Sinologie an der Universität Trier. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die digitale Gesellschaft, Religiongspolitik sowie sozialer Wandel. Außerdem ist sie Senior Research Fellow am Mercator Institut für China-Studien (Merics).

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