
Frau Oertel, China behauptet, seine Politik sei konsistent, klar und eindeutig. Im Russland-Ukraine-Konflikt wirkt es aber, als laviere Peking und vermeide es, klar Stellung zu beziehen. Einerseits will man die Territorialität und Souveränität von Staaten schützen, andererseits will man Russlands Verhalten nicht verurteilen. Im UN-Sicherheitsrat hat China sich enthalten. Was sind die Gründe?
Dafür muss man zurück zu Putins Besuch in Peking kurz vor den Olympischen Spielen. Schon damals hat sich Xi Jinping für die Seite Putins entschieden, wohl wissend, was passieren kann. Das ist das, was mich am meisten irritiert. Und auch beunruhigt.
Sie glauben, Xi hat schon damals eine russische Invasion in die Ukraine abgesegnet?
Auf jeden Fall lag das damals schon auf dem Tisch. Es scheint mir merkwürdig zu glauben, dass nach allem was bekannt ist, Xi nicht verstanden haben soll, welche Ausmaße der Konflikt annehmen könnte. Und in dieser Situation hat sich Xi entschieden, zusammen mit Putin ein Statement abzugeben, in dem sich China erstmals gegen die Expansion der Nato stellt.
Aber China hat doch durchaus eigene Interessen in der Ukraine, die sich so gar nicht mit einem russischen Einmarsch verbinden lassen.
Ja. Und es gibt viele Stimmen in China, aus Thinktanks oder dem Forschungsbereich, die sagen, das sei nicht im Interesse Chinas. Aber Xi geht es offenbar um mehr. Es scheint, als habe er festgelegt, dass es ein übergeordnetes chinesisches Interesse gibt. Da geht es um eine neue Weltordnung, und hier müssen kurzfristige politische und ökonomische Ziele einfach zurückstehen. Das beunruhigt mich, denn damit bekommt der Ukraine-Konflikt eine globale Dimension, plötzlich geht es um die zukünftige Weltordnung.
Was können wir aus Chinas Worten herauslesen?
Sich zu weigern, das, was passiert, als Invasion zu bezeichnen zum Beispiel, oder dass man Verständnis habe für Russlands „legitime Sicherheitsinteressen“. Das sind sehr wichtige und weitreichende Formulierungen. Zugleich wird aber auch deutlich, dass man noch überlegt, wie es weitergehen soll. Peking muss abschätzen, wie reagieren die Amerikaner, was macht die Nato, wohin bewegt sich die EU oder auch die afrikanischen Staaten. Deutlich wird die schwierige Abwägung zwischen gegenläufigen Interessen. Man kann eben nicht für staatliche Souveränität sein und gleichzeitig den Einmarsch Russlands nicht verurteilen.
Was will China dann?
Man will ein Narrativ schaffen, das sagt, die Aggression geht im Prinzip von den USA aus und dass es sich daher um eine Verteidigungshandlung Russlands handelt. Das scheint wichtiger zu sein als die jahrelangen Prinzipien der eigenen Außenpolitik, nämlich territoriale Souveränität und Integrität der Ukraine.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Putin und Xi? Sind das wirklich so enge Freunde, wie sie selbst behaupten?
Das ist wirklich schwer zu sagen. Wer weiß schon, was in den beiden vorgeht. Es scheint, als hätten sie einen ganz eigenen Blick auf die Welt. Ihre gemeinsame Abneigung gegen den Westen sollte man sicher nicht unterschätzen. Sie stützen sich darin gegenseitig und trauen sich dadurch neue Schritte. Das ist beunruhigend.
Welche neuen Schritte geht China?
In den letzten zwei Jahren haben wir gesehen, wie wenig Wert China darauflegt, mit Europa ein gutes Verhältnis zu haben oder auf europäische Interessen einzugehen, um sich Europa wohlwollend zu halten. Dafür hätte es genug Möglichkeiten gegeben. Aber die hat man bewusst oder sehr stümperhaft zerstört.
Woran denken Sie?
In der Pandemie hätte man nur ein bisschen kooperativ sein müssen in der Zusammenarbeit mit der WHO oder anschließend nicht eine derart aggressive Diplomatie verfolgen können. Die Europäer waren doch sehr offen für China. Zudem war Donald Trump im Amt. China hätte diesen Zeitpunkt strategisch nutzen können, um sich sehr gut mit den Europäern zu stellen. Zudem hat Peking ja auch große wirtschaftliche Interessen in Europa, wie auch große wirtschaftliche Abhängigkeiten.
Aber?
Aber der Unmut über Chinas Verhalten in und mit Europa wächst stetig, und Peking geht trotzdem unerbittlich gegen Litauen vor – und man denkt wieder, das kann doch eigentlich nicht im Interesse Chinas sein, die ganze EU gegen sich aufzubringen. Aber, und ich glaube, das ist der entscheidende Punkt: Vielleicht sind die Maßstäbe, wonach wir bewerten, was in Chinas Interesse ist, nicht mehr die richtigen. Das passiert auch jetzt. Wir sagen, China hat doch wirtschaftliche Interessen in der Ukraine und mit den westlichen Staaten. Alles richtig. Aber Chinas Führung hat offenbar entschieden, kurzfristigen wirtschaftlichen Schaden in Kauf zu nehmen, um langfristige politische Ziele zu verfolgen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Kalkulation ändert, wenn die Kosten weiter steigen.
In der Vergangenheit hat es immer geklappt: Peking sucht sich eine vermeintliche Schwachstelle, in Europa bleibt es bei Solidaritätsbekundungen, sonst passiert nichts – und Peking kommt damit durch. Zugleich wird die Mär von der vermeintlichen Einheit im Westen bitter entlarvt.
Ja, und selbst bei Litauen scheint das zumindest kurzfristig auch wieder funktioniert zu haben. Aber langfristige Folgen sind absehbar. Europa bringt Maßnahmen voran und die Stimmung hat sich verändert. Ich bin mir nicht sicher, ob die Abschätzung in Peking gerade korrekt ist. Wenn die Europäer tatsächlich enger zusammenrücken, könnte es ungemütlich werden für Peking.
Und sie glauben tatsächlich, dass das dieses Mal passieren wird?
Ich weiß es nicht, aber die relative Geschlossenheit des Westens und die Härte der Maßnahmen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine sendet hoffentlich ein wichtiges Signal nach Peking. China ist nicht Russland, die Einigkeit wäre schwieriger herzustellen, aber ignorieren kann man die derzeitigen Reaktionen in Peking nicht.
Auch wenn es rein pragmatisch ist, das Verhältnis zwischen China und Russland ist so gut wie vielleicht noch nie. Ein Problem für Europa und den Westen?
Ich würde mir wünschen, dass wir in Europa schleunigst anfangen darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn China und Russland immer enger zusammenarbeiten, was das für eine Welt wäre. Das Signal, das beide senden wollen: Wir sind nicht isoliert.
Welche Auswirkungen hat das russische Vorgehen und Chinas Stillschweigen auf die Zukunft von Taiwan?
In Taiwan macht man sich wahnsinnige Sorgen. Man beobachtet sehr genau, wie die Reaktion des Westens aussieht, ob man die Ukraine verteidigen wird oder nicht. Das ist ein klares Signal für Taiwan. Die Ukraine steht der Nato sehr nahe, aber sie ist kein Nato-Bündnispartner. In dieser Situation fängt man in Taiwan an zu überlegen, in welcher Art von Bündnis man zu den USA steht, wer einem zur Hilfe eilen würde im Ernstfall. Die strategische Bedeutung Taiwans ist für die USA eine andere als die der Ukraine, aber Taiwan muss sorgenvoll auf die Eskalation in der Ukraine blicken. Es fällt schwer, keine Parallelen zu ziehen. Denn auch China versucht, das für sich zu nutzen. Da wird jetzt schon der Grundstein gelegt für ein Narrativ, das sehr besorgniserregend ist.
Was kann Europa denn tun? Die Fregatte Bayern wieder losschicken, um Taiwan zu retten?
Nein, das allein hilft sicher wenig. Aber es geht ganz prinzipiell darum, in der Region Präsenz, Flagge zu zeigen. Das erwartet man in der Region. Ansonsten ist es vor allem eine diplomatische Frage, welche Signale sendet man, wie kann man die Kosten für eine chinesische Aktion so hoch wie möglich halten und das auch deutlich und glaubwürdig signalisieren.
Überschätzen Sie an dieser Stelle vielleicht Europa?
Nein. Aber man kann das natürlich nur machen, wenn man auch entsprechende Druckmittel hat. Deshalb muss man die Taiwanfrage einbinden in unser Gesamtverhältnis zu China. Man muss wettbewerbsfähig bleiben und darf nicht zu sehr in Abhängigkeiten geraten.
Wo könnte Europa ansetzen? Was würde China beeindrucken?
Technologie-Exporte und die Handelsbeziehung im Allgemeinen. Es geht hierbei grundsätzlich um die Frage, ob wir als außenpolitischer Akteur ernst genommen werden.
Ich fürchte, da macht man sich in Berlin und Brüssel etwas vor. Oder?
Ja. Wenn man das chinesische Verhalten anschaut, wird klar: Derzeit nimmt man uns in Peking nicht vollständig ernst. Entscheidend hierbei ist die Einigkeit zwischen den europäischen Staaten. Solange wir geschlossen auftreten, sowohl in Wirtschaftsfragen wie auch in Fragen kollektiver diplomatischer Haltung, ist Europa ein starker und glaubwürdiger Akteur. Sobald das aber nicht der Fall ist, haben wir ein Problem.
Xi Jinping hat schon mehrmals und sehr deutlich gesagt, dass die Taiwanfrage weit oben auf seiner Agenda steht.
Nur leider wird das in Europa nicht ernst genug genommen. Das wäre schon der erste Schritt, politisch ernst zu nehmen, was gesagt wird. Ein Putin, der sagt, im Zweifelsfall marschiere ich in die Ukraine auch militärisch ein. Das müssen wir als Lektion mitnehmen. Wenn Xi Jinping signalisiert, dass auch er bereit ist, die Taiwanfrage im Notfall militärisch zu lösen, dann sollte man das ernst nehmen. Das heißt noch lange nicht, dass es auch passiert, aber vorbereitet zu sein wäre sinnvoll.
Ich will nicht nur schwarzmalen, aber: in Xinjiang sind UN-Angaben zufolge eine Million Uiguren inhaftiert – nichts passiert. Zu Hongkongs Autonomie hatte man Verträge abgeschlossen – nichts passiert. Im Südchinesischen Meer liegt gar ein internationaler Schiedsspruch vor – und auch das ist China egal.
Ich kann natürlich nicht sagen, dass wir in der Taiwanfrage nun auf jeden Fall endlich geschlossen auftreten werden und damit China zumindest zum Nachdenken bringen. Ich kann nur hoffen, dass wir uns als Europa stärker positionieren in Konflikten, die maßgeblich nicht nur unsere eigenen Interessen betreffen, sondern auch Demokratien in Asien und damit die globale Ordnung.
Dann nehme ich mal Chinas Haltung ein, um das Problem zu verdeutlichen, vor dem wir in unserer eigenen Argumentation stehen: Was ist das Problem, ihr im Westen sagt doch auch, dass es nur ein China gibt. Wenn wir in Taiwan einmarschieren, ist das doch keine Veränderung des Status quo. Es gibt nur ein China.
Das Argument des Status quo kann man nicht mehr halten. Der Status quo hat sich signifikant verändert in den letzten mehr als siebzig Jahren, diese Status-quo-Argumentation funktioniert so nicht mehr. Deshalb müssen wir uns auch fragen, ob unser derzeitiger politischer Ansatz tatsächlich noch zeitgemäß ist oder ob wir es inzwischen mit zwei sehr unterschiedlichen Chinas zu tun haben und wir dann auch hier klarer Position beziehen müssen.