Gastbeitrag von Jan-Martin Klinge (halbtagsblog.de)
Ich bin seit mehr als zehn Jahren Lehrer. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die mit den Umständen klarzukommen versuchen und wenig Energie ins Lamentieren stecken. Das Pandemie-Jahr war ätzend – aber es wird für niemanden besser, wenn ich mein Leid lauthals beklage.
Ich arbeite an einer städtisch geprägten Gesamtschule im Aufbau. „Städtisch geprägt“ bedeutet: sehr heterogene, inklusive Schülerschaft. Kein ländliches Privatgymnasium sozusagen. Vor drei Jahren haben wir begonnen unsere Verwaltungsprozesse zu digitalisieren. Vor zwei Jahren einen ersten Tabletjahrgang eingeführt. Mit der ersten Schulschließung haben wir diesen Prozess vorangetrieben und mit Unterstützung der Stadt schließlich alle Kinder mit einem digitalen Endgerät ausstatten können. Seit einem halben Jahr befinden wir uns in der Vorbereitung zu einer großen Schultransformation.
Puffer zwischen den Interessen
An meiner vierzügigen Schule bin ich hauptverantwortlich für die Jahrgangsstufen 5-7. Anmeldungen, Abmeldungen, Verfehlungen, Elterngespräche, Klassenfahrten, Koordination der Jahrgangsstufen. Darüber hinaus arbeiten wir in unserem Schulleitungsteam extrem kompetenzorientiert, mit viel Vertrauen und mit fließenden Übergangen in der Aufgabenverteilung.
Dieses Jahr war herausfordernd, weil man als Schulleitung oft der Puffer zwischen den vielen Interessen war. Für einige Eltern waren die Masken schon völlig übertrieben, andere fragten frustriert an, wann wir denn endlich in der Schule mit dem Impfen beginnen würden.
Das Kollegium suchte nach Planungssicherheit, die wir oft nicht geben konnten. Was, wann und wie galt, erfuhren wir manchmal freitagabends im WDR. Wann wird geimpft? Warum wir nicht? Wann kommen die Tests? Wie werden die durchgeführt? Was macht man bei positivem Ergebnis? Ist das Gesundheitsamt, die Schulleitung oder sind die Eltern verantwortlich?
Darüber hinaus Gespräche mit der Stadt: Wie gehen die Umbaumaßnahmen weiter? Wann kommen zusätzliche Masken? Und tausend Dinge mehr.
Das war an manchen Tagen nur semi-schön.
Darüber hinaus sind wir Schule im Aufbau: Einen Stillstand können wir uns schlicht nicht erlauben, ab kommendem Schuljahr muss die Oberstufe geplant werden. Und entgegen eines ersten Gedankens wird es nicht so sein, dass bei uns einfach alle Schüler:innen mit notwendiger Qualifikation auch Lust aufs Abitur haben und sich eine Oberstufe von selbst aufstellt. Das wird harte Überzeugungsarbeit in vielerlei Richtungen.
Den Schulentwicklungsprozess haben wir gemeinsam mit dem Kollegium, welches durch Schulschließung, Testung, persönliche Sorge und zusätzliche Sozialarbeit bei den Kindern über Gebühr belastet war, noch zusätzlich gestemmt. Schlicht ein Wahnsinnsprogramm für alle Beteiligten.
Nie zuvor habe ich so viel gelernt. Nie zuvor so intensiv und so viel gearbeitet. Ganz sicher kein verlorenes Schuljahr.
Kein 6-stündiger Videochat für Kinder
Neben den Schulleitungsaufgaben unterrichte ich mit halber Stelle: Zwei Mathekurse, zwei Technik-Kurse und zwei Physikkurse habe ich diesem Jahr begleitet. Ob und wann und wie nächste Woche noch Unterricht stattfindet, war eine ständige Ungewissheit. Können wir in zwei Wochen noch die Klassenarbeit schreiben? Im Dezember steht Magnetismus in der 6 an – wie soll das im Fernunterricht gehen? Wie um alles in der Welt soll ich Technik-Unterricht per Video-Konferenz durchführen? Hallo – habt ihr zufällig eine Oberfräse zu Hause im Kinderzimmer? Na, schade, dann schaut mir mal beim Fräsen zu…!“
Mehr als je zuvor habe ich mir Gedanken um meinen Unterricht gemacht. Mehr als je zuvor habe ich meinen Unterricht so vorbereitet, dass ich selbst zur Not überflüssig bin. Habe Lernräume vorbereitet und Ideen entwickelt, gesammelt und ausgetauscht, wie man – ja, auch Technikunterricht! – im Distanzunterricht durchführen kann.
Als dann im ersten Quartal die erwartete Schulschließung kam, war ich vorbereitet. Wie eigentlich alle meine Kolleg:innen. Abläufe, Prozedere und pädagogische Handlungsweisungen waren durchdacht und zielführend. Keine sechsstündigen Videokonferenzen für Kinder. Und keine E-Mails am Montagmorgen mit Funkstille bis Freitag.
Ich behaupte: Als Lehrender habe ich noch nie soviel gelernt, wie in diesem Schuljahr. Ganz sicher kein verlorenes Schuljahr.
Zeugnisse aus dem Pandemie-Jahr sind kein Geschenk
Gestern habe ich für meine Klasse zusätzliche Corona-Zeugnisse gedruckt (hier die Vorlage). Darauf stehen Errungenschaften wie „Wochenplanaufgaben und Lernzeiten eigenständig organisiert“ oder „zahlreiche technische Hürden und Probleme gemeistert„.
Die absolute Mehrheit meiner Schüler:innen hat in den vergangenen Monaten unfassbar viel gelernt. Nicht nur „den Stoff“, der ohne Zweifel von Bedeutung ist. Tausende Videokonferenzen, vorbereitetes Material, regelmäßiges Feedback und ständiger Austausch haben dafür gesorgt, dass bis zum Schluss vernünftig gearbeitet wurde. Die Zeugnisse teile ich nicht als Geschenk aus wie eine Tüte Gummibärchen vor den Sommerferien – da steckt harte Arbeit dahinter.
Aber viel mehr noch.
Ein Schüler meines Technikkurses hat das Haus als 3D-Modell entworfen und ausgedruckt. Zwei Schüler fragten mich erst diese Woche, ob es nicht die Möglichkeit gäbe, zukünftig eine Excel-Werkstatt im Stundenplan zu verankern – das wollten sie lernen. Unsere kleine Schülerfirma, die in der 5. Klasse gegründet wurde, besteht immer noch und vertreibt eigenverantwortlich Batterien, Stifte und Stiftspitzen. Es wurden Filme gedreht, Hörspiele produziert, alternative Klassenarbeiten erprobt, Projektarbeiten erstellt – und unfassbar viel gelernt.
Vieles davon lässt sich nicht wie in einem Computerspiel auf eine Skala reduzieren und medienwirksam raushauen. „Uh, Jonathan, dein Problemlöse-Skill für Videokonferenzen ist von 17 auf 18 Punkte angestiegen.“
Von der Öffentlichkeit selten beachtet: Die Zahl der Studienabbrecher liegt an Universitäten bei knapp 30 Prozent. Ich behaupte, dass ein Grund darin liegt, dass viele Studierende nicht gelernt haben, eigenverantwortlich zu lernen. Es fehlen genau die Skills, die unsere Schüler:innen in den letzten Monaten zuhauf erlernt haben.
Highlights? Eher die Regel. Auch für diese Kinder war das kein verlorenes Schuljahr. Ich glaube auch, dass das – wenn auch in kleinerem Rahmen – für Grundschulkinder zutreffen kann.
Ich verschließe nicht die Augen vor jenen, die mit den Anforderungen des vergangenen Jahres nicht zurechtgekommen sind. Kinder und Jugendliche, für die dieses Schuljahr nicht nur ein verlorenes Jahr war, sondern – mit etwas Pech – eines, von dem man sich nicht mehr erholt. Blickt man auf sie, bleibt viel schales Bedauern. Dieses Jahr hat vieles zerstört.
Gewiss kein verlorenes Jahr
Egal ob aus der Perspektive einer Schulleitung, eines Lehrers oder aus Schülersicht: Das Jahr war wahnsinnig anstrengend und die anstehenden Sommerferien sind mehr als verdient.
20/21 war kein Schuljahr, das ich noch einmal erleben möchte, aber es war gewiss kein verlorenes Jahr.
Jan-Martin Klinges Halbtagsblog gehört zu den spannendsten Lehrerblogs der Bildungsrepublik. Klinge unterrichtet Mathe, Physik, Arbeitslehre und Technik an der Gesamtschule Auf dem Schießberg in Siegen. Zusammen mit Riza Kara verfasst er Schulbücher.