
Gastbeitrag von Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger
Philippe Wampfler und Björn Nölte haben über „Eine Schule ohne Noten“ geschrieben. Durchgängig ist dabei positiv spürbar, dass hier zwei Schulpraktiker am Werke waren. Philippe Wampfler unterrichtet bis heute an einer Schweizer Kantonsschule als Deutschlehrer. Mit über 100 Tutorials während der Pandemie hat er vielen verzweifelten Lehrkräften bei der Einarbeitung in digitale Tools geholfen. Björn Nölte ist Referent der Evangelischen Schulstiftung, war aber zuvor unter anderem einige Jahre als Oberstufenkoordinator an Schulen tätig.
An den tatsächlichen oder behaupteten Mängeln und Nachteilen des Ziffernnoten-Systems haben sich im letzten Jahrhundert schon viele abgearbeitet. Die Literaturliste dazu ist unendlich lang. Bereits in der Frankfurter Zeitung vom 16.12.1929 wetterte ein Gastautor gegen „Zensuren als geistige Barbarei unseres modernen Schullebens“. Er plädierte für „Werturteile in Worten“, die die „geistige Gemütsverfassung des Zöglings“ kennzeichnen sollen. Trotzdem sind heute, fast ein Jahrhundert später, Ziffernnoten immer noch integraler Bestandteil von Schulen, übrigens nicht nur in Deutschland; sondern überall auf der Welt.
Damit wollen die Autoren nun endgültig aufräumen. Wampfler und Nölte bleiben nicht wie viele andere bei der schon hundertmal artikulierten, bekannten Kritik an Noten stehen. Die Lehrer versuchen, anknüpfend an den gerade anlaufenden digitalen Transformationsprozess, Alternativen aufzuzeigen. Wie könnten notenfreie Bewertungsverfahren und neue Prüfungsformate im Rahmen eines neuen Bildungsverständnisses an unseren Schulen Einzug halten? Nölte wie Wampfler haben hohe Ansprüche an gelingende Bildungsprozesse. Ihr pädagogischer Impetus und Idealismus ist auf jeder Seite spürbar.
Absolutheitsanspruch und apodiktische Thesen einer Traumwelt
Letztendlich leidet die Grundthese des Buchs aber unter ihrem Absolutheitsanspruch und der sich durchziehenden apodiktischen These, die man so beschreiben könnte: Ziffernnoten bzw. Noten überhaupt sind die Hauptursache für misslingende Lernprozesse. Ohne Noten öffnet sich eine wunderbare neue Schulwelt. Sie ist gekennzeichnet durch stets motivierte Lernende sowie dialogisches Lernen auf Augenhöhe und ohne Angst. Es seien die Lernenden selbst, die jetzt die Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen.
Das Buch selbst besteht aus mehreren Teilen. Zunächst werden Länder und Schulen genannt, die ohne Noten auskommen. Dann nehmen Nölte und Wampfler eine umfassende Kritik der bestehenden Notengebung vor. Schließlich versuchen sie, konkret Wege zu einer neuen Prüfungskultur ohne Noten aufzuzeigen.
Ein Land, dessen Schulsystem ohne Noten auskommt, haben die Autoren nicht gefunden. Kunststück – es gibt auch keines. Da muss man dann schon auf einzelne skandinavische Länder ausweichen, die bis zur 8. Klasse keine Ziffernnoten kennen. Was Nölte/Wampfler nicht erwähnen: danach wird knallhart nach Noten differenziert, etwa bei den Jugendlichen, die in die akademische Spur wechseln wollen. Wenn es um Berechtigungen und Abschlusszeugnisse geht, sind Noten überall en vogue.
Etwas merkwürdig wird es, wenn US-Eliteuniversitäten als Musterbeispiele notenfreier Zonen dargestellt werden. Sie deklarieren Klausuren nur noch als bestanden oder nicht bestanden. Ich sehe zwischen Notendruck und der Nichtbestehensangst keinen großen Unterschied. Vor allem aber braucht eine Elteuni natürlich deshalb nicht nach Noten zu differenzieren – weil eine harte noten- bzw. prüfungsabhängige Aufnahme gleich am Anfang steht.
Noten sind nicht gerecht. Aber das beantwortet viele Fragen nicht
Noten sind oft nicht gerecht. Sie sind zum Teil subjektiv. Es gibt die Neigung, Schüler in Schubladen zu stecken und dadurch vermeintlich gute Prüflinge zu bevorzugen. Vermutet Schwächeren traut man weniger zu. Das ist richtig beobachtet. Dennoch bleiben damit wichtige Fragen unbeantwortet. Sind nicht auch die neu angepriesenen dialogischen, prozess- und projektorientierten Prüfungsformen und Portfolios bei der Bewertung anfällig für subjektive Verzerrungen? Würde es sich nicht lohnen, an einer gerechteren, objektiveren, auch mit einer differenzierteren Feedbackkultur verbundenen Notenpraxis zu arbeiten?
Die von Philippe Wampfler und Björn Nölte zitierte Studie von Karlheinz Ingenkamp ist 50 Jahre alt. Sie kam ja zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche Lehrkräfte den selben Deutschaufsatz mit Noten von 1 bis 6 bewerteten. Die Extremnoten waren dabei Ausreißer. Ingenkamp zog aber damals nicht etwa den Schluss, Noten abzuschaffen. Er gestaltete sie durch mehr Standardisierung und exaktere Bewertungsraster gerechter. Wampfler und Nölte dagegen lehnen exakte Erwartungshorizonte grundsätzlich ab, da sie kreative Schülerlösungen nicht abbilden könnten.
Die beiden Autoren lehnen Noten auch deshalb ab, weil sie Bewertungen darstellen, an deren Stelle sollen individuelle Rückmeldungen treten. Aber trägt diese Unterscheidung? Sind nicht immer auch Rückmeldungen Bewertungen und Wertungen, etwa bezüglich des erreichten Kompetenzstandes und der Qualität des bisherigen Lernprozesses? Und sind nicht immer auch Noten Rückmeldungen, vor allem dann, wenn die reine Ziffernote noch schriftlich oder verbal erläutert wird?
Über das Scheitern machen sich Nölte und Wampfler keine Gedanken
„Noten führen zu Frustrationen“ ist ein Satz, der sich wie eine rote Linie durch das Buch zieht. Frustrationen entstehen aber aus einem falschen Umgang mit Noten, nicht durch die Noten selbst. Und natürlich können gute Noten oder Notenverbesserungen motivieren, das hat jeder schon erfahren. Menschen, gerade junge Menschen wollen wissen, wie andere ihre Leistungen beurteilen. Das stärkt auch ihre eigene Urteilungsfähigkeit. Diese positiven Effekte oder auch die Tatsache, dass sich bei allen demoskopischen Umfragen stets eine große Mehrheit für die Beibehaltung von Noten ausspricht, wischen die Autoren beiseite. Sie schreiben, die Menschen seien noch zu sehr in der heutigen Schulrealität gefangen. Sie könnten sich die neue schöne notenfreie Welt noch nicht vorstellen.
Durchaus anregend ist die Darstellung alternativer Prüfungsformate, die helfen sollen, eine neue Lernkultur ohne Noten zu erreichen. Da wird das Buch erfreulich konkret. Allerdings sind die Beispiele, gerade im Hinblick auf selbstständiges Bearbeiten komplexer, teils über Monate sich erstreckender Projekte, fast alle auf Mittel- und Oberstufen bezogen. Da mag ja mitunter dialogisches Lernen mit gemeinsamer Verabredung von Zielen noch funktionieren, in der Primar- und Unterstufe eher nicht. Bei der Zielerreichung bevorzugen die Autoren meist „Master or die“ oder „Fail or pass„-Bewertungsschemata, also eine bloße Unterscheidung in „Ziel erreicht“ oder „nicht erreicht“. Über das Scheitern machen sich die Autoren dabei wenig Gedanken, sie gehen in aller Regel davon aus, dass alle Schülerinnen und Schüler die Ziele erreichen. Schöne neue Schulwelt!
Was soll nach den Noten kommen, wenn sie weg sind?
Ein Hauptargument für die Vergabe von Noten und Zertifikaten war immer, dass sie eine Allokationsfunktion erfüllen. Das heißt, sie erleichtern den Abnehmern von Schulabsolventen, der Uni, den Arbeitgebern die Auswahl. Demgegenüber konstatieren Wampfler und Nölte eine Krise der schulischen Noten-Zeugnisse und nennen als Beispiel die Deutsche Bahn. Bei Bewerbungen verlangt der Konzern keine Zeugnisse mehr, sondern nur noch einen Test. Die DB aber meidet nicht deshalb Zeugnisse, weil sie nicht aussagekräftig wären. Sie glaubt, dadurch angesichts des eklatanten Personalmangels mehr Stellenbewerbungen zu bekommen – von Jugendlichen mit schlechten Zeugnissen. Wenn es eine Zertifikatskrise geben sollte, dann eher deshalb, weil wir beim Abitur derzeit eine Noteninflation erleben. Bestnoten häufen sich massiv. Das aber liegt nicht an der Existenz von Noten, sondern am falschen, undifferenzierten Umgang damit.
Bestens belegt ist – zumindest bislang – übrigens die Prognosekraft von Abiturdurchschnittsnoten, was den späteren Studienerfolg angeht. Das geben auch Nölte und Wampfler ausdrücklich zu, wenn sie schreiben, „teilweise kennen wir keine besseren Möglichkeiten zur Vorhersage als Noten!„
Die entscheidende Frage ist aber doch, was an die Stelle von nach Noten differenzierten Zertifikaten und Zeugnissen treten würde, wenn Noten abgeschafft würden.
Werden sich dann die Unis und Arbeitgeber in komplexen und aufwändigen Assessmentcentern die besten Bewerberinnen und Bewerber aussuchen? Welchen Stellenwert wird Bildung und Persönlichkeit da überhaupt noch haben? Oder werden dann an die Stelle von Noten andere Auswahlkriterien treten: ein Multiple-Choice-Test, persönliche Beziehungen oder eine tolle verbale Performance im Vorstellungsgespräch? Und machen dann Biografien mit vielen Auslandsaufenthalten und Praktika, die das Elternhaus finanziert hat, den Unterschied? Ein Verzicht der Schule auf Noten wird vermutlich nicht zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen.
Das Buch von Wampfler und Nölte liefert wichtige Anstöße
Vieles ist anregend, was in diesem Buch zu gelingenden Lernprozessen, zu den Chancen digitaler Medien und Prüfungsformate, zu Teamarbeit und kollaborierenden Projekten gesagt wird. Das Noten-Buch von Philippe Wampfler und Björn Nölte liefert in der Tat wichtige Anstöße für eine an Qualität und der Erziehung zur Mündigkeit orientierte moderne Bildungsarbeit.
Der Erfolg oder Misserfolg solcher Schulentwicklungsprozesse entscheidet sich aber nicht an der Frage der Noten.
Keine Lehrkraft sollte in der Vergabe von Noten den Kern ihrer beruflichen Tätigkeit sehen, im Fokus steht immer der Lern- und Bildungsprozess der Kinder. Schule sollte sich aber auch nicht aus ihrer Aufgabe zur Verleihung notendifferenzierter Abschlusszeugnisse herausziehen. Die Abschaffung von Noten wird keine gerechtere Welt schaffen, die Willkür würde eher zu- als abnehmen.
Björn Nölte, Philippe Wampfler. Eine Schule ohne Noten: Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung. Bern: hep-Verlag, 136 S. 20 Euro