
Gastbeitrag von Isabel Ruland
Die Schulpflicht im Sinne eines Gebots zur Anwesenheit in staatlichen Schulgebäuden besteht in Deutschland seit 1919. Damals war die Schulpflicht eine Errungenschaft für die demokratischen und – erstmals – halbwegs milieuunabhängigen Möglichkeiten für die Bildung aller Kinder.
Ihr voraus ging seit dem 18. Jahrhunderts eine Unterrichtspflicht. Die forderte Eltern auf, ihren Kindern Bildung zuteil werden zu lassen. Das geschah auch, um sie vor Ausbeutung als Arbeitskräfte unter Missachtung ihrer Bedürfnisse zu schützen. Es war nicht festgelegt, wie und wo die Bildung stattzufinden hatte. Oft wurde sie in einer Form des Hausunterrichtes umgesetzt, reiche Familien schickten ihre Kinder auf Privatschulen oder engagierten Hauslehrer. Für Eltern, die weder Neigung noch Ressourcen besaßen, ihre Kinder zu bilden, sprang zur Verwirklichung der Unterrichtspflicht der Staat ein.
Die Schulpflicht galt zu Beginn als schwerer Eingriff ins Elternrecht
Die Durchsetzung der Schulpflicht wurde aufgrund ihrer Historie als schwerer Eingriff in elterliche Rechte angesehen. Bis heute – manchen mag es in den Ohren klingeln – wird sie kontrovers diskutiert. Die Begründung der Schulpflicht liegt im Recht der Kinder, die zur Entwicklung und ihrem gesellschaftlichen Bestehen notwendige Bildung zu erlangen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Schulpflicht – man halte die Luft an – erst im Jahr 2006 ausgeführt. Sie dient der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrages. Der alltägliche Kontakt mit der demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nebst ihren Diskursen wirkt toleranzfördernd.
Die hinter diesen Begründungen liegenden Bildungs- und Sozialisationsmöglichkeiten waren natürlich ausschließlich analoger Natur. Digitalisierung gab es noch nicht. Eine Familie, die die Schulpflicht nicht erfüllte, ihre Kinder isolierte (aus welchen Gründen auch immer), verletzte in der Tat im Beharren auf dem Recht der Eltern das Recht des Kindes – und auch das Recht des Staates.
Elternrecht und Schulpflicht neu definieren
Jahrzehnte nach diesen bis heute gültigen Grundlagen sieht unsere Bildungslandschaft ganz anders aus. Die Digitalisierung hat Einzug gefunden, seit Beginn der Pandemie auch (im Verhältnis zu vorpandemischen Schulausstattungen) in rasantem Tempo. Unterricht kann an fast jedem Punkt dieses Landes gewährt werden – ohne die Anwesenheit in einem bestimmten Raum dafür zu benötigen. Die Konsequenz ist, dass wir elterliche Erziehungs- und Bildungspflicht, Bildungsrecht, Schulpflicht, Präsenz- und Distanzlernen und staatliches Erziehungsrecht unter sich verändernden Gegebenheiten neu betrachten müssen. Wir werden dann zu modernen und angepassten Schlüssen kommen – wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft auch.
Konnte Bildung in vordigitaler Zeit nur in Präsenz vermittelt werden, so könnte das heute ohne unüberwindliche Probleme auch in Distanz erfolgen.
Das Verfassungsgericht nimmt zukunftsweisenden Standpunkt ein
Dieser Entwicklung hat das Verfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil im November 2021 zur Verfassungsmäßigkeit der Bundesnotbremse entsprochen, die den Präsenzunterricht verbot. Karlsruhe erkennt erstmalig das Recht auf schulische Bildung von Kindern gegenüber dem Staat an. Es lässt aber offen, in welcher Form dieses Recht wahrgenommen werden kann. Dabei wird explizit auf die Verpflichtung des Staates hingewiesen, das Bildungsrecht der Schüler in der Zeit des Präsenzunterrichtsverbotes auch durch Distanzunterricht zu gewährleisten. Damit nimmt das Gericht einen wichtigen, den technischen Entwicklungen und modernen pädagogischen Erkenntnissen angemessenen, zukunftsweisenden Standpunkt ein. Viele andere Länder dieser Welt vertreten mit der Abschaffung der Schulpflicht (im Sinne einer Präsenzpflicht) diese Idee schon länger.
Die Digitalisierung bedeutet für die Home- oder Fernbeschulung eine unermessliche Erleichterung. Sie verschafft der Welt – und auch Deutschland – neue Möglichkeiten, flexibel auf unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse moderner Familien reagieren zu können.
Die staatliche Schulbildungspflicht ist zunehmend unabhängig von der Präsenz-/Distanzfrage. Didaktik, Methodik und Kommunikation sind dafür durchaus entwickelbar.
Onlineschulen bieten Alternative zur hergebrachten Schulpflicht
Der staatliche Erziehungswille hinsichtlich Sozialisation in einer pluralistischen, toleranten, demokratischen Gesellschaft und der wichtige Kontakt der Kinder untereinander ist ebenfalls nicht zwangsläufig abhängig von der Frage nach Schulpräsenz. Den Kontakt zu andersdenkenden, altersdifferenten oder auch gleichgesinnten Menschen finden Kinder ebenso oder sogar besser bedürfnisorientiert und gewinnbringend jenseits der Schule. Bestehende Onlineschulen in Deutschland bieten beispielsweise auch Klassen-/Gruppenmöglichkeiten und hybride Lernformen an. Dem berechtigten Bedürfnis der Kinder kann somit auch anders als durch Schulpflicht entsprochen werden.
Den sozioökonomisch unabhängigen Zugang zu digitalen oder Nicht-Regelschulangeboten könnten staatliche kostenlose Onlineschulen oder vergleichbare flexible Möglichkeiten gewähren. Auch könnte man die bestehenden Onlineschulen in Deutschland als Ersatzschulen analog zu anderen Ländern rund um den Globus anerkennen. Bislang können hierzulande nur unter streng limitierten Bedingungen langfristig und/oder schwer erkrankte oder in Regelschulen nicht beschulbare Kinder solche Möglichkeiten nutzen, die teils auch hohe Schuljahreskosten erheben.
Schulpflicht hemmt kreative Bildung
Wissenschaftlich wird die Schulpflicht schon lange kritisch als mögliches Hemmnis einer selbstbestimmten und kreativen Bildung und als Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Lernwilligkeit von Kindern und der Erziehungsfähigkeit von Eltern diskutiert.
Die Schulpflicht in Deutschland ist also eine historisch berechtigte und in vielen Facetten gut begründete „Pflicht“, die über Bildungspflicht und Erziehungsrecht des Staates hinaus gesellschaftliche Funktionen etwa für die Erwerbstätigkeit von Eltern erfüllt. Ihr Bestand ist mit der Digitalisierung, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über Lernen und Sozialisation und zukünftige Erfordernisse der Gesellschaft sowie mit einem Fokus auf das originäre Recht der Kinder auf bedürfnisorientierte Bildung ohne Zuschreibung erwachsener oder wirtschaftlicher Erwartungen diskussionswürdig.
Isabel Ruland ist Pädagogin und Kriminologin, deren beide Kinder Schulen in NRW besuchen. Ihren Text veröffentlichte sie zunächst als Folge von Tweets im sozialen Netzwerk Twitter.