
Von Jan Krüger
Glaubt man den gängigen Erfolgsmeldungen für den Ausbildungsmarkt, sind junge Menschen heute in einer komfortablen Situation. Es vergeht kaum ein Tag ohne die Beteuerung von Wirtschaftsverbänden, aber auch Politik, Azubis würden händeringend gesucht und hätten alle Chancen, ihre berufliche Zukunft selbst zu bestimmen. Im krassen Gegensatz dazu steigt die Zahl der jungen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss seit Jahren auf zuletzt 2,33 Millionen. Wie passt das zusammen?
Ein Fehler liegt in der Interpretation der Ausbildungszahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA). Oft werden sie für weitreichende Aussagen über den Ausbildungsmarkt herangezogen. Die Zahlen sind allerdings in erster Linie eine Geschäftsstatistik der Arbeitsagenturen und Jobcenter und sagen daher mehr über deren Vermittlungstätigkeit aus.
Bundesagentur stellt Zahlen irreführend gegenüber
Denn: Nicht jeder junge Mensch, der die Hilfe der Arbeitsagenturen oder Jobcenter in Anspruch nimmt, wird als „Bewerber:in“ gezählt. Erst wenn er oder sie nach den Kriterien von Arbeitgeberverbänden und der BA als „ausbildungsreif“ eingestuft wird, gibt es den offiziellen Status als „Bewerber:in“ in der BA-Statistik. Umgekehrt kann eine Ausbildungsstelle durch die Bundesagentur erst gezählt werden, wenn die Arbeitgeber sie der Agentur auch mitteilen.
Beide Angaben sagen also mehr über das Meldeverhalten der Betriebe und den Zugang zu den Angeboten der Bundesagentur aus als über das Ausbildungsinteresse von jungen Menschen und die verfügbaren Ausbildungsplätze.
Im Ergebnis stellt die BA in ihren Monatsberichten die Zahl der „unversorgten Bewerber:innen“ (2022: 22.685) der Zahl noch offener Ausbildungsstellen gegenüber (2022: 68.868). Schnell wird daraus die Meldung, dass alle unversorgten Bewerber:innen rechnerisch aus drei offenen Stellen wählen könnten. Diese Gegenüberstellung ist aber irreführend.
200.000 junge Menschen ohne Ausbildungsvertrag
Es lohnt sich ein Blick darauf, wie die Bundesagentur die restlichen Jugendlichen kategorisiert:
- Als „einmündende Bewerber“ führt sie jene, die tatsächlich eine geregelte Ausbildung aufgenommen haben. Unter dem Strich gelang das bis Oktober 2022 nur 47 Prozent der erfassten Bewerber:innen.
- Daneben zählt sie bestimmte Jugendliche ebenfalls als versorgte Bewerber:innen, die keine Ausbildungsstelle gefunden haben oder deren Verbleib unbekannt ist! Für die Bundesagentur wünschen „andere ehemalige Bewerber“ keine weitere Hilfe bei der Ausbildungsplatzsuche. Sie werden daher aus dem System abgemeldet und von der Bundesagentur als versorgt gezählt. Über ihre Motivation, keine Hilfe mehr in Anspruch zu nehmen, wissen wir nichts.
- Die „Bewerber mit Alternative zum 30.09.“ erhalten ihren Vermittlungswunsch dagegen bewusst aufrecht. Statt einer Ausbildung gehen diese jungen Menschen andere Wege: Sie gehen weiter zur Schule, studieren, machen Praktika oder Freiwilligendienste. Oder sie beginnen eine Einstiegsqualifizierung oder berufsvorbereitende Maßnahmen. Manche mögen sich dafür bewusst und freiwillig entscheiden. Häufig sind die Betroffenen aber einfach bei der Ausbildungssuche leer ausgegangen.
Die Tatsache, dass von diesen „versorgten“ Bewerber:innen acht Prozent einen Job annehmen, vier Prozent sich arbeitslos melden und für 13 Prozent keine Informationen zum Verbleib vorliegen, sollte die Bildungspolitik eigentlich hellhörig werden lassen. Unter dem Strich stehen also den ca. 70.000 offenen Ausbildungsstellen ca. 201.000 junge Menschen gegenüber, die letztlich keinen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben.
BVerfG: Kein „auswahlfähiges“ Angebot
Ein umfassenderes Bild von der Ausbildungssituation liefert uns das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). Die Forscher verknüpfen immer Mitte Dezember die Daten der Bundesagentur mit den tatsächlich eingetragenen Ausbildungsverträgen. Deren Anzahl liefern die Kammern als gesetzlichen Auftrag.
Schaut man sich die Analyse des BIBB von 2021 an, kamen damals auf 100 Ausbildungssuchende 99,1 Ausbildungsstellen. Es handelt sich also rechnerisch um einen fast ausgeglichenen Ausbildungsmarkt. Von einem auswahlfähigen Angebot kann aber nicht gesprochen werden. Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1980 müssten dafür 112,5 Angebote auf 100 Suchende kommen. Außerdem: Von allen Ausbildungsinteressierten sind im vergangenen Jahr nur 66,9 Prozent tatsächlich in Ausbildung eingemündet. Häufig machen Betriebe einen Bogen um junge Menschen mit schwächeren Schulleistungen, lassen Ausbildungsplätze unbesetzt oder ziehen sich ganz aus der Ausbildung zurück, wenn sie keine aus ihrer Sicht passenden Bewerber:innen finden.
Damit zeigt sich, dass der Ausbildungsmarkt bei Weitem nicht so rosig ist, wie er von vielen Politikern, Arbeitgebern und in der Berichterstattung gezeichnet wird. Trotz Fachkräftemangel scheitern noch immer zu viele junge Menschen am Übergang zwischen Schule und Erwerbsleben. Vielfach wird dieses Problem eher verschleiert, statt offensiv nach Lösungen im Sinne der Betroffenen zu suchen. Die Situation am Ausbildungsmarkt wird schön gerechnet. Ein erster Schritt wäre eine ehrliche Statistik der Bundesagentur über ihre Beratungs- und Vermittlungsarbeit.
Jan Krüger ist Abteilungsleiter Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim DGB-Bundesvorstand.