„Die Öffentlichkeit muss mitreden“

Auf dem Foto sieht man Michael Seemann, er fordert mehr Transparenz bei den Plänen einer Nationale Bildungsplattform.
Michael Seemann erforscht im Auftrag von wikimedia die Plattformpläne des BMBF.

von Michael Seemann

Als Facebook 2014 bekannt gab, 50 neue Geschlechterkategorien für seine Profile einzuführen, ging ein Rauschen durch den Blätterwald. Die Politik dieser Entscheidung wurde allgegenwärtig erkannt und in den Feuilletons kontrovers diskutiert. Das war 2004 anders, als eine ähnliche Entscheidung getroffen wurde. Damals führte das frisch gestartete „thefacebook“ allerdings nur „männlich“ und „weiblich“ als Geschlechterkategorien ein. Natürlich war auch diese Entscheidung eine ebenso politische, auch wenn Mark Zuckerberg das beim Programmieren wohl nicht so gesehen hat.

Infrastrukturelle Entscheidungen sind keine reinen Gegenwartsphänomene, sondern bilden die Grundlage für Weiterentwicklungen und für darauf aufbauende Software und Kommunikationspraktiken. Man nennt solche Entscheidungen auch Pfadentscheidungen, denn sie setzen die Weiterentwicklung auf einen speziellen Pfad. In allen digitalen Infrastrukturen sitzen etliche solche Pfadentscheidungen und machen bestimmte kommunikative Handlungen möglich oder wahrscheinlich, andere unmöglich oder unwahrscheinlich. Diese „Politik der Pfadentscheidung“ ist eine oft übersehene, aber umso mächtigere Form der gesellschaftlichen Beeinflussung.

Die wichtigsten Pfadentscheidungen werden jetzt getroffen

Vor etwas über einem Jahr stellte die Bundesregierung ihr Projekt der „Nationalen Bildungsplattform“ vor (lesen Sie hier eine Analyse und ein Interview von Bildung.Table). Sie soll als „Meta-Plattform“ das vorhandene Feld bestehender Education-Software und Lernmanagement-Systeme im Hintergrund vernetzen. Diese „Middleware“ soll einen gemeinsamen Log-in, eine standardisierte Datenhaltung beim User, sowie den Austausch von Metadaten zwischen den verschiedenen Systemen bewerkstelligen. Das 630 Millionen Euro-Projekt befindet sich nach einer einjährigen Explorationsphase, in der verschiedene Prototypen und Softwareprojekte testweise aufeinander abgestimmt wurden, in der Evaluation. Die Ergebnisse der Auswertung sollen vermutlich im Herbst in die eigentliche Ausschreibung der nationalen Bildungsplattform münden. Mit anderen Worten: Die wichtigsten Pfadentscheidungen werden genau jetzt getroffen.

Die Verantwortlichen tun derweil alles dafür, das Projekt rein technisch und unpolitisch aussehen zu lassen. So spricht man heute nicht mehr gerne von „Plattform“, sondern bevorzugt „Meta-Plattform“, als wäre der Plattformbegriff noch nicht abstrakt genug. Doch davon darf man sich nicht täuschen lassen. Auch die nationale Bildungsplattform inkorporiert viele implizit politische Pfadentscheidungen – allerdings abseits der Öffentlichkeit.

Spärliche Informationen aus Projektbüro und BMBF

Um genau diese Pfadentscheidungen zu identifizieren und zur Diskussion zu stellen, hat Wikimedia Deutschland e.V. uns mit der Erstellung einer Konzeptstudie beauftragt. Zusammen mit Felicitas Macgilchrist, Christoph Richter, Heidrun Allert, Jürgen Geuter und Kathy Messmer haben wir uns daran gemacht, öffentliche Informationen zu sammeln, Dokumente zu analysieren und Interviews zu führen. Wir wollen in einem ersten Schritt die Pfadentscheidungen der Bildungsplattform analysieren und zeigen, welche Vorstellungen von Lernen und Bildung dort implizit festgeschrieben werden. In einem zweiten Schritt wollen wir diesen Vorstellungen eine selbst entwickelte Alternative entgegensetzen und in einem dritten Schritt erklären, wie diese alternativen Vorstellungen in Software umgesetzt werden könnten.

Was wir für unsere Studie benötigen, sind Informationen. Doch die geben die Verantwortlichen nur ungern heraus. Das Projektbüro, das mit der Umsetzung der nationalen Bildungsplattform beauftragt ist, sagte uns bei einem ersten virtuellen Treffen im März dieses Jahres Interviews und Zugang zu allerlei Dokumenten zu. Aus den Interviews wurden schriftliche Fragen, die wir einreichen durften – und auf die Dokumente warten wir bis heute.

Kritisch: Governance, Lernkonzept, Datensicherheit

Doch selbst anhand des Materials, das wir bereits haben, kann man einige kritische Fragen stellen.

  • Warum wurden fast ausschließlich Projekte gefördert, die auf individualistische Lernkonzepte abstellen? Ist Lernen nicht auch kollaborativ und kollektiv? Die Meta-Plattform ist technisch und rhetorisch insgesamt sehr auf das Individuum zugeschnitten. Es geht um Identitätsmanagement und Zertifikat- (bzw. Zeugnis-)Verwaltung. Bleibt da auch Raum für Gemeinschaftlichkeit, Freunde und Vernetzung und nicht formalisierte Lernprozesse?
  • Was macht eine auf das Sammeln von Zertifikaten optimierte Infrastruktur mit den Anreizen im Bildungssystem? Das zieht sich auch durch die Metaphern. Ständig wird vom „individuellen Lernpfad“ und von der „lebensbegleitenden Bildungsreise“ gesprochen. Das klingt erstmal, als ob überall auf unsere Bedürfnisse eingegangen wird. Bis man bedenkt, dass damit die Lernerfolge der Vergangenheit die Lernchancen der Zukunft vorstrukturieren sollen. Ein Lernen wie auf Schienen kennen wir bereits aus dem dreigliedrigen Schulsystem. Wollen wir das im Digitalen wirklich weiter radikalisieren?
  • Die beim User selbstverwaltete Wallet soll Datensouveränität herstellen. Klingt zwar erstmal gut, bedeutet aber in der Realität das Outsourcen der Informationssicherheit auf das Individuum. Wie gut das funktioniert kann man im Krypto-Bereich nachlesen, wo Hacker*innen täglich hässliche Affenbilder aus ebensolchen Wallets klauen.
  • Völlig unterbelichtet ist die ganze Frage der Governance. Wer soll darüber entscheiden, welche Bildungsangebote über die Plattform erreichbar, welche promotet werden? Nach welchen Regeln geschieht das und wer ist verantwortlich? Allein, die Tatsache, dass es im Projektbüro dazu bisher noch kaum Konzepte gibt, zeigt, wie wenig sich über diese Fragen Gedanken gemacht wird.

Angesichts der Reichweite und Dominanz, die Plattformen erreichen können, sind solche Fragen alles andere als trivial. Große Plattformen erreichen einen Zustand, den ich auch „Infrastrukurhegemonie“ nenne. Wenn sich Millionen Nutzerinnen und Nutzer, Inhalte, Apps und ganze Ökosysteme um eine Plattform formieren, dann werden infrastrukturelle Pfadentscheidungen zu quasi-hegemonialen Herrschaftssystemen.

Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, bei diesen Entscheidungen mitzureden. Das Projektbüro und das Ministerium darf die Öffentlichkeit nicht einfach vor vollendete Schnittstellen stellen. Ich fordere endlich mehr Transparenz in dem Prozess und die aktive Einbeziehung der Öffentlichkeit in diese Debatten. Insbesondere Lehrer und Schülerinnen, die am Ende mit dem System zurechtkommen müssen, haben ein Recht darauf, mitreden zu dürfen.

Michael Seemann ist promovierter Medienwissenschaftler. Zuletzt erschien sein viel beachtetes Buch Die Macht der Plattformen. Für wikimedia führt er derzeit zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Studie zur Nationalen Bildungsplattform durch. Zwischenergebnisse hat wikimedia vergangene Woche auf der re:publica präsentiert (zum Politikbrief).

Mehr zum Thema

    „So wie in Dresden 2008“
    Mutausbruch für ein zukunftsfähiges Abitur
    Energiegeld: „Ich fühle mich als Versuchskaninchen“
    Die SWK als stacheliger Kaktus