„Das Internet macht nicht an Ländergrenzen halt“

Tong-Jin Smith fordert ein Kerncurriculum „Medienbildung“ von KMK-Präsidentin Busse.

Spätestens seit Veröffentlichung der Studie ‚Quelle: Internet? ist offensichtlich, woran die Medienbildung in Deutschland krankt: Es fehlt ein nationales Kerncurriculum – ein Rahmen für die Informations- und Nachrichtenkompetenzbildung (INK) an Schulen.

Zwar bewegen sich viele Nutzer:innen in Deutschland laut der Studie schon kompetent im Netz. Aber längst nicht alle können die Güte von Quellen bewerten und teilen unbekannte Videos aus dem Netz gedankenlos mit Freunden und Familie. Es mangelt oft an „ganz konkreten Kenntnissen und Fähigkeiten“, um souverän in der Medienwelt zu navigieren, so die Autor:innen der Studie.

  • Nur die Hälfte der Befragten weiß, dass Medien Nachrichten über einen Bundesminister ohne dessen Zustimmung veröffentlichen dürfen.
  • 35 Prozent glauben, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Staatsministerin für Kultur und Medien unterstellt ist; weitere 40 Prozent sind sich nicht sicher. 
  • Nur sieben Prozent erkennen den Hinweis „Advertorial“ als Werbekennzeichnung.
  • Knapp ein Viertel der Befragten kann mit den Faktencheck-Kennzeichnungen von Plattformen wie Youtube etwas anfangen.

Und wo sind die Defizite am größten? Ausgerechnet bei jungen Menschen mit niedriger Schulbildung. In den Haupt- und Mittel- beziehungsweise Realschulen wird Medienbildung als Teil der politischen Bildung stark vernachlässigt. Das zeigt unter anderem die Studie „Ungleicher Zugang zur politischen Bildung: ;Wer hat, dem wird gegeben’“ (zum Download). Ein Beispiel: 61 Prozent der Schüler:innen an Gymnasien haben die Chance, an einer Schülerzeitung mitzuarbeiten; an den anderen Sekundarschulen nur 32 Prozent. 

Kein Konsens zwischen den Bundesländern

Dabei gehört Demokratiebildung selbstverständlich zum Kern schulischer Bildung – oder in den Worten der Kultusministerkonferenz: „Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden, die verantwortungsvoll, selbstkritisch und konstruktiv ihr berufliches und privates Leben gestalten und am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.“ Dennoch gibt es bis heute unter den Bundesländern keinen Konsens, wie Medienbildung praktisch aussieht. Es fehlt schon eine einheitliche Definition. 

Ein Blick in die Rahmenlehrpläne und Curricula zeigt, dass Informations- und Nachrichtenkompetenzen (INK) längst nicht in allen Bundesländern systematisch in den Lehrplänen verankert sind. Vielmehr existiert ein unübersichtlicher Flickenteppich an Programmen, Projekten, Modulvorschlägen und Materialsammlungen. Dabei hat die KMK schon 2012 Medienbildung als „Lernbereich in der schulischen Bildung“ in einem entsprechenden Beschluss verankert. Nur einheitliche Standards oder Leitlinien für die Entwicklung eines Fachcurriculums fehlen bislang.

Hessen und Thüringen sind Vorreiter

Medienbildung ist in den meisten Bundesländern eine Querschnittsaufgabe. Mit anderen Worten: Die tatsächliche Vermittlung von INK ist am Ende vom Interesse und der Kreativität der Lehrkräfte abhängig sowie vom Zugang zu außerschulischen Angeboten wie Journalismus macht Schule oder Lie Detectors. Nur in wenigen Bundesländern gibt es konkrete Curricula oder werden eigenständige Schulfächer als Pilotprojekte eingeführt, so etwa aktuell in Hessen mit „Digitale Welt“ und Thüringen mit „Medienkunde“ bzw. „Informatik und Medienkunde“. Aber reicht das? Wohl kaum.

Die Bildungsforschung dringt mit Blick auf die Bildungs- und Befähigungsgerechtigkeit auf bundesweit einheitliche Standards. Es ist längst überfällig, dass die Bildungsminister:innen ein nationales Kerncurriculum einführen – abgestimmt auf die einzelnen Schuljahre und Schularten. Der Föderalismus und die gerne angeführten sozialen und kulturellen Besonderheiten der Länder taugen hier nicht als Ausrede. Das Internet macht nicht an Ländergrenzen halt. Was alle Schüler:innen als Teil einer fundierten Demokratiebildung brauchen, ist konkretes Wissen über das deutsche Mediensystem, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Funktionsweise von Nachrichtenjournalismus und die Steuerung der digitalen Öffentlichkeit durch Algorithmen.

UNESCO-Curriculum als Vorbild

1997 hat sich die KMK im Konstanzer Beschluss vorgenommen, bundesweite Bildungsstandards einzuführen. 25 Jahre später liegt der Ball jetzt bei KMK-Präsidentin Astrid-Sabine Busse. Sie muss diesen Prozess durch ein Kerncurriculum „Medienbildung“ fortführen, flankiert durch Aus- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte. 

Es gibt sogar ein Vorbild: das internationale Media and Information Literacy Curriculum der UNESCO, das in Zusammenarbeit mit der Republik Serbien in einem Multi-Stakeholder-Dialog entwickelt wurde. Das Curriculum greift aktuelle soziale und digitale Entwicklungen auf und beschäftigt sich unter anderem mit Künstlicher Intelligenz, Dimensionen der Privatsphäre, ‚digital citizenship‘, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Science Literacy und dem Phänomen der Desinformation. Es ist Zeit, dass alle jungen Menschen in Deutschland auch von diesem Wissen und den dazugehörigen Kompetenzen profitieren.

Tong-Jin Smith ist Politikwissenschaftlerin. Sie hat eine Professur für Journalismus an der HMKW Berlin und ist Mitgründerin des Center for Media and Information Literacy (CeMIL) an der FU Berlin.

Mehr zum Thema

    Die Schulleiter nicht alleinlassen!
    John Hattie: Neue Metastudie über gutes Lernen
    „Für ein echtes Kooperationsverbot!“
    Wer K sagt muss auch I sagen