
Man gerät schnell in die Versuchung, zu Felix Ohswald aufzuschauen. Nicht nur wegen der schieren Größe des 2,02-Meter-Mannes. Sein Start-up „GoStudent“ hat kürzlich die 1,4 Milliarden-Euro-Marke geknackt, ist also ein sogenanntes Einhorn. Im Börsenslang beschreibt das ein Unternehmen mit einem Wert größer als eine Milliarde. Dem 26-jährigen Ohswald und seinem Mitgründer Gregor Müller ist es binnen wenigen Jahren gelungen, aus der Idee einer digitalen Nachhilfe-Plattform den Pauk-Marktführer Europas zu machen.
Nachhilfe gibt es, seit Schulen existieren. Der Markt in Deutschland wird von „Studienkreis“ und „Schülerhilfe“ dominiert. Die eingesessenen Unternehmen mit Hunderten Filialen nennen sich beide die „Nummer Eins“ in Deutschland. Sie bieten selbst bereits seit einem Jahrzehnt Online-Formate an. Ihre vielen Standorte mit Räumen und Schulbänken sind teuer. Und Marketing und Auftreten sind viel gemäßigter als die spektakulären PR-Aktionen von GoStudent. Die österreichischen Newcomer boten den Regierungen Frankreichs und Deutschlands mitten in der Pandemie fünf Millionen Nachhilfestunden an – zum Selbstkostenpreis. Auf Social Media werben sie mit lauten (und albernen) Spots, die auf Dieter Bohlen und Angela Merkel anspielen. Lässt sich auf diese Weise Bildung revolutionieren?
Nachhilfe mit dem guten alten Format – 1:1
Felix Ohswald, sonnengebräunt, weißes Hemd, die blonden lange Haare zum Dutt gebunden, ist sich da sicher. „Wir haben gemerkt, wenn wir Nachhilfe technologisch umsetzen, können wir sie effizienter und messbar machen.“ Bildung sei immer ein Bereich gewesen, in dem wenig Innovation realisiert wurde. Das ändere sich nun. Für seine Wettbewerber hat er wenig übrig. Traditionelle Plattformen hielten sich nurmehr händeringend am Leben, glaubt Ohswald. Früher oder später hätten sie ein Ablaufdatum. Eine interessante Sichtweise. Denn das Produkt von GoStudent unterscheidet sich kaum von den Anbietern am Markt: Ein Nachhilfelehrer unterrichtet Schüler in der Relation 1:1 – nur halt jetzt online. Die Investoren scheinen an GoStudent zu glauben. Zuletzt konnte das Start-up 205 Millionen Euro einheimsen – so viel frisches Kapital hat vorher noch kein Edu-Startup bekommen.
Der GoStudent-Erfinder empfängt in seinem Büro im 2. Bezirk von Wien. Über zwei Etagen erstrecken sich die 2020 bezogenen Räumlichkeiten. Überall sitzen Menschen mit Headset im Ohr vor ihren Laptops. 750 Mitarbeitende zähle das Unternehmen aktuell. „Be productive as fuck,“ schreit ein buntes Plakat sie vom Flur aus an. „Work hard, play hard“. Mantras eines Start-ups, das an die Spitze will. Geht es nach dem jungen Macher, soll GoStudent das größte Bildungsunternehmen der Welt werden. Als Vorbild dient Amazon-Gründer Jeff Bezos. „Er ist jemand, der es geschafft hat, einen Industriebereich neu zu denken und besser zu machen“, schwärmt Ohswald. „In der Bildung ist bisher gefühlt gar nichts passiert.“
Pauken fürs CNN-Interview
Zur Begrüßung reicht der Wiener die Hand, als hätte es Corona nie gegeben. „Das ist mein Saustall„, zeigt er auf seinen vollbeladenen Schreibtisch. Ein chaotischer Erfinder-Typ ist der Gründer indes nicht. Er ist gespickt mit Fakten und Zahlen zu Bildungssystemen überall auf der Welt. Sein Auftreten ist kontrolliert und ernsthaft. Seine Selbstbeschreibung, er quatsche gern darauf los, nimmt man ihm nur schwer ab. Für ein CNN-Interview kürzlich paukte er Gespräche, um ein Gefühl zu bekommen, wie andere sich präsentieren. Geben sie kürzere Antworten, oder längere? Schauen sie in die Kamera? Lächeln sie oft? In der Sendung verkündete er die Mission, die Nummer Eins der Nachhilfeschulen weltweit werden zu wollen. „Wenn du der Beste sein möchtest, musst du die Besten begeistern,“ sagt der Sohn eines Bankiers.
Angefangen hat alles mit WhatsApp. Ohswald habe, so wird erzählt, erst Freunden und Mitschülern via Messenger in Mathe geholfen. Der jüngere Bruder – Moritz – beginnt, Felix‘ Handynummer zu teilen, damit ihm Mitschüler Fragen zu Mathematik-Aufgaben stellen können. Mit der Zeit seien es Hunderte im Mathechat gewesen. Anfangs ist das eine Spielerei für den Mathe-Freak, der mit 14 Jahren per Sondererlaubnis seiner Schule beginnt, an der Universität Mathe zu studieren. Später geht er nach Cambridge mit dem Fokus Finanzmathematik. Es folgen berufliche Erfahrungen bei Nationalbank und Unternehmensberatung. In Zürich an der ETH macht er seinen Master in Quantitative Finance. Die Tutor-Idee vergisst er nicht. 2016, mit Anfang 20, gründen er und Müller GoStudent. Aus der WhatsApp-Lerngruppe wird eine Firma.
Am Anfang war die WhatsApp-Gruppe
Jedes Kind habe ein Smartphone, das war der ökonomische Ausgangspunkt. Ohswald und sein Kompagnon wollten Kinder mit guten Lehrern zusammenbringen. Der Mann, der Bildung revolutionieren will, erzählt nun mit plakativer Demut: „Wir haben gedacht, wir haben die Weisheit mit Löffeln gegessen“. Berauscht vom Erfolg des WhatsApp-Service, „waren wir uns sicher, auf dem richtigen Weg zu sein.“ Ohswald und Müller tüftelten allein vor sich hin, ohne sich Feedback einzuholen. Die anfängliche Arroganz habe sie viel Geld und Zeit gekostet. „Wir sind wortwörtlich auf die Fresse geflogen.“
Es habe nur gehalten, weil beide Gründer Dickköpfe seien. 6500 Tutor:innen beschäftigt GoStudent heute in 19 Ländern. So breit bietet das Einhorn seinen Nachhilfe-Service bereits an. Pro Monat werden etwa 420 000 Sessions gebucht, wirklich gehalten werden in Deutschland monatlich etwa 120.000. Die PR-taugliche Differenz liegt daran, dass in die Buchungszahlen auch 24-Monats-Verträge einfließen. Für den Vergleich zu Studienkreis und Schülerhilfe ist das wichtig. Von der Zahl der Nachhilfelehrer:innen sind die beiden Marktführer deutlich größer als GoStudent, das in Deutschland 3.500 Lehrer:innen hat. Studienkreis wie Schülerhilfe zählen circa 10.000 Lehrkräfte – jeder. Beide geben an, rund 400.000 Stunden Nachhilfe monatlich zu halten. Von einem Boom der Online-Nachhilfe wollen beide nichts wissen.
Bildung verändern durch Ökonomisierung
Wenn Felix Ohswald einmal beginnt, über die Stärken von GoStudent zu schwärmen, schrumpfen seine Konkurrenten scheinbar. Und er verfällt immer mehr in Unternehmer-Sprech. Schüler und Lehrkräfte verschwinden, Begriffe wie Innovation, Effizienz und Messbarkeit dominieren. Bildung wird zum Verkaufsprodukt, zur Ware. In der Ökonomisierung von Bildung sieht er eine Chance, von der am Ende alle profitieren könnten. „Bildung ist ein heikles und emotionales Thema,“ sagt er und plädiert dafür, die Emotionen nicht in den Mittelpunkt zu stellen. „Am Ende des Tages hat jeder ein Interesse daran, dass wir unsere Kinder von heute besser für die Zukunft von morgen ausbilden.“

Was aber unterscheidet GoStudent von den anderen Plattformen? „Wir rekrutieren qualitativ hochwertige Lehrer,“ versichert Felix Ohswald gebetsmühlenartig in seinen Interviews. Wie kann er das garantieren? „Das ist das Schöne“, erklärt er, „weil der Unterricht digital ist, kann er messbar gemacht werden.“ Momentan läuft ein Pilotprojekt, bei dem mittels Künstlicher Intelligenz (KI) jede Unterrichtseinheit einem Qualitätscheck unterzogen wird. Er holt sein Laptop hervor und zeigt den Screenshot einer Lehrkraft während der Lernstunde. Darunter verlaufen bunte Linien, wie bei einem EKG. „Anhand der Mimik werden bei Lehrer und Kind die Emotionen gemessen,“ erklärt er. Die KI könne feststellen, ob jemand besonders häufig zwinkert und daher müde ist – oder weniger und somit wach. „Daraus kann man eine Korrelationsmatrix erstellen und sehen, wie sich die Emotionen der Lehrkraft auf das Kind übertragen,“ ist Ohswald überzeugt.
Lehrer-Qualität mit KI messen
Experten, wie der Dresdner Professor für Linguistik Alexander Lasch, halten den Einsatz von KI in 1:1-Videokonferenzen indes ethisch für nicht geeignet. „Da wird die Beobachtungsfähigkeit des Lehrers infrage gestellt, indem man ihm zur Unterstützung eine Biometrik an die Hand gibt, die den Schüler zu einem Objekt macht,“ beurteilt Lasch die GoStudent-KI. Und Lasch ist nicht etwa Gegner von Künstlicher Intelligenz, sondern hält ihren Einsatz für eine notwendige Versuchsanordnung. Felix Ohswald hingegen ist von den Vorzügen seines Wegs überzeugt. Beinahe trotzig reagiert er auf Vorbehalte. „Ja nichts messen, ja nichts messen!„, seufzt der sonst so kontrollierte Geschäftsmann. „In der Bildung wird alles, was mit Messen zu tun hat, kategorisch abgelehnt.“ Dabei brauche es diese Datengrundlage, um etwas zu verbessern. Messbarkeit habe den Effekt, dass alle, die in der Kette arbeiteten, es besser und kostengünstiger machen könnten.
Um ihre Qualität zu garantieren, unterziehe GoStudent seine Lehrkräfte einem scharfen Test, das gilt als Firmenphilosophie. Bereits beim Bewerbungsverfahren würden sie knallhart auf Qualität geprüft. Nur fünf bis sieben Prozent der Bewerber:innen schafften das. Zuerst muss ein 40-minütiger Fachwissenstest bestanden werden. Bei dem bereits 80 Prozent durchrasselten. Anschließend gibt es einen pädagogischen Test, bei dem die Bewerber:innen eine Aufgabenstellung anschaulich erklären müssen. „Wozu brauche ich Integralrechnung im echten Leben?“ Bewertet werden sie von einem Tutor-Team, in dem ausgebildete Lehrkräfte und die erfolgreichsten Nachhilfe-Lehrer:innen beschäftigt sind. Bewertet wird unter anderem nach kommunikativen Fähigkeiten, Selbstvertrauen, Präsenz und Empathie. Nur etwas weniger als die Hälfte bestünden diese Runde. Die meisten scheiterten daran, zu begeistern und zu inspirieren.
Der Mathematiker scheint hier einen Moment im Bildungsprozess gefunden zu haben, der nicht messbar ist. Aber es gebe etwas, das noch schwieriger ist, als gute Lehrer zu finden, sagt er: „Diese Leute, die absolute Spitze sind, möglichst lange zu halten und das maximale Potenzial auszuschöpfen.“ Eine spannende Frage. Auf die Felix Ohswald noch keine Antwort weiß. Lisa Winter