Die wissenschaftlichen Berater der Kultusminister hatten ihr Papier noch nicht vorgelegt, da brach schon der Sturm der Entrüstung los. Im Twitterlehrerzimmer und selbst auf dem fröhlichen Kanal LinkedIn wurde wüst auf die vermeintlich ahnungslosen Gutachter der KMK eingeschlagen. Der Tenor der Kritik von GEW über Philologenverband bis Bertelsmann-Stiftung war einhellig. Folgen die Kultusminister den Empfehlungen, dann ziehen sie in der Schulkrise die Daumenschrauben bei ihren wichtigsten und einzigen Profis an, den Lehrkräften. Und es stellte sich die Frage: Wie kann man einen wertschätzenden Diskurs bei einer der wichtigsten Fragen der Bildungsrepublik organisieren – dem Lehrermangel?
Ein achtsames und innovatives Twitterlehrerzimmer
Es gibt bereits eine Reihe von Foren – die aber weder in den redaktionellen noch in den sozialen Medien Gehör finden. Nun will ein neuartiges soziales Medium ein konstruktives Reformgespräch organisieren: Edusiia. Die relativ neue Plattform, die teilweise kostenpflichtig ist, möchte ganz anders sein als das ruppige Twitter- und das belanglose Insta-Lehrerzimmer: achtsam, innovativ – und transformativ. „Edusiia soll ein Raum sein, in dem wohlwollende Gespräche möglich sind“, sagt Anna Papadopoulos, eine der Gründerinnen. „Voraussetzung dafür sind unsere gemeinsamen Werte. Dazu zählt etwa, dass wir eine positive Entwicklung anstreben und dass wir alle grundsätzlich Lehrende und Lernende zugleich sind.“
Die Prinzipien sind nicht neu. Sie gelten in der 2021 gestarteten Initiative „Wir für Schule„. Sie spielen eine Rolle bei spontan organisierten Barcamps wie dem Ausbaldowercamp, das kürzlich stattfand und zu dem sich 1.800 Teilgeberinnen und -geber akkreditiert hatten. (Sessionplan) Auch das pxp-Festival, das im Juni stattfinden soll, will diese Prinzipien zelebrieren. Einen reichweitenstarken Effekt in die Tiefe der Lehrerschaft hatte bisher keines dieser Netzwerke.
Zwiespalt zwischen Kultusministern und Lehrern
Dabei scheint das dringend nötig. Selten war der Zwiespalt zwischen dem Empfinden von Lehrkräften auf der einen Seite und Wissenschaft und Kultusministern auf der anderen so groß, ja unüberbrückbar. Die Vorschläge der Wissenschaftlichen Kommission sind durchgefallen – und zwar quer durch die Bildungsszene. „Diejenigen, die jetzt in den Klassenzimmern stehen, dürfen nicht ausbaden, was die Politik in den letzten 20 Jahren verbockt hat – weil sie einfach nicht genug neue Lehrer eingestellt hat“, schimpft Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrerinnen und Lehrerverband.
In die gleiche Kerbe haut die Coachin Romy Möller, die Transformationsfortbildungen für Lehr- und Führungskräfte organisiert. „Für mich sind die Vorschläge zur Teilzeitkürzung oder auch zur Stundenerhöhung Vorschläge, die nur das Problem in den Blick nehmen und nicht das ganze System“, sagt sie. „Viel sinnvoller wäre in meinen Augen: Wie können wir Lehrkräfte darin bestärken, dass sie wirklich das tun können, was sie wirklich gerne tun wollen: die Bildungschancen jedes Kindes zu erhöhen.“
Ein Lehrermangel, den Lehrkräfte nicht mehr aushalten
Denn die Reformvorschläge der Wissenschaftlichen Kommission der Kultusminister erhöhen die Schlagzahl für jenen Teil der Lehrerinnenschaft, der ohnehin unzufrieden mit dem Lernsystem ist. Im System findet sich im Moment – von wenigen kurzen Bemerkungen im Gutachten abgesehen – kaum Abhilfe oder Entlastung. Im Gegenteil, es wird Salz in jene Wunde der Lehrer gerieben, an der sie bereits leiden: Sie sollen einen fremdbestimmten Lehr-Lern-Prozess forcieren, Prüfungen abnehmen und die Arbeit der sich leerenden Lehrerzimmer übernehmen.
Bereits die berühmte Schaarschmidt-Studie im Auftrag des Beamtenbundes von 2006 ergab, dass nur 17 Prozent aller Lehrer gesund leben, weniger als in jedem anderen Beruf des öffentlichen Dienstes. Knapp ein Drittel galt gar als burnoutgefährdet. In der Pandemie hat sich das voraussichtlich noch verschärft. Lehrer und Schulleiter hatten das Gefühl, alles auf einmal sein zu müssen: Bildungsminister, Hygienebeauftragte, Teststation, psychologische Berater, Digitalbeauftragte, Inkludierer, Integrierende – sowie, ganz zuletzt, auch noch Lehrkraft. Und nun immer öfter: Lückenfüller.
Der Mensch im Mittelpunkt, nicht das Arbeitstier
Edusiia will da einen offenen und zugleich differenzierten Raum bereitstellen, in dem sich Lehrkräfte sammeln können – auch mit ihren Sorgen. „In den sozialen Medien kann man sich allzu leicht verstecken hinter Polemik, Zynismus und Anklage„, sagt Gründerin Papadopoulos, die als Beraterin arbeitet und in Kopenhagen Organisations-Innovation und Unternehmergeist studiert hat. „Wir möchten aber Menschen und Bildungsenthusiast:innen einladen, sich auch in einer gewissen Art und Weise vulnerabel zu zeigen. Sie sollen ihre Herausforderungen und ihre Bedenken teilen – und in den gemeinsamen Austausch gehen. Dazu braucht es geschützte Räume.“
Praktisch soll das so gehen, dass Organisationen bei Edusiia Diskursräume errichten können – um sich zu bestimmten Themen zu finden. Die Preise dafür beginnen bei 29 Euro im Monat und richten sich nach der Größe der Organisation. Aus diesen großen Vorräumen entstehen dann idealerweise spezifischere Breakout-Räume. In denen sich Lehrkräfte und Schulleiter zu konkreten Reformprojekten zusammenfinden und austauschen: Grundschulen, Montessori-Orientierte, Notengegner, Digitalschulen und so fort. Das Ideal von Anna Papadopoulos und ihren beiden Mitgründern Georg Babing und Niki Papadopoulos ist so etwas wie das vom BMBF gegründete Schultransform – nur ohne Papierkram und externe Berater, die ohnehin nie einen Fuß in die ihnen zugeteilte Schule setzen werden.
Die Reformpower soll selbstorganisiert sein. Ein freundliches Twitterlehrerzimmer, in dem man nicht vor anonymen Zaungästen posen oder sich verteidigen muss. Sondern, so formuliert es Papadopoulos, eine Ladestation für Lehrkräfte, die ausgelaugt sind – und trotzdem etwas ändern wollen. „Auch in der Schule muss endlich der Mensch im Mittelpunkt stehen. Und nicht nur das Arbeitstier im Menschen.“