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Vorwürfe gegen Karl Lauterbachs Lebenslauf substanzlos

Karl Lauterbach als Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln im Jahr 2004. (Bild: IMAGO / teutopress)

Anfang der Woche sägten Oppositionspolitker am Stuhl des Bundesgesundheitsministers. Tags zuvor hatte die Welt am Sonntag über „dunkle Flecken“ in dessen Vita berichtet. Genauer gesagt: über angeblich vorgetäuschte Kompetenzen in der ersten Bewerbung von Karl Lauterbach um eine Professur. „Ein frisierter Lebenslauf würde auch auf die Eignung für das Ministeramt abfärben“, ließ sich CDU-Gesundheitssprecher Tino Sorge in der Welt zitieren. FDP-Vize Wolfgang Kubicki drohte mit „fristloser Kündigung“ und Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch verlangte, der Minister müsse „die im Raum stehenden Unklarheiten vollständig ausräumen“.

Das tat Lauterbach aber nicht. Den Münchner Merkur ließ er lediglich wissen, er könne den konkreten Fall „nicht mehr rekonstruieren“.

Der Fall Lauterbach ist ein Beispiel für das, was passieren kann, wenn Menschen mit einer Agenda etwas versuchen aufzuklären, von dem sie inhaltlich wenig verstehen. Ein Fall, der so lange zurückliegt, dass mindestens ein Beteiligter bereits verstorben ist – und andere sich kaum noch erinnern. „Archivunterlagen belegen, wie Karl Lauterbach seinen Lebenslauf fälschte, um an eine Professur zu gelangen“, twitterte eine der Rechercheurinnen aufgeregt. Gewiss, Unterlagen wurden eingesehen. Nur: Sie wurden falsch interpretiert.

Screenshot: Twitter

Kern der Vorwürfe: ein angeblich inexistentes Forschungsprojekt

Kern der Vorwürfe: ein vom Bundesgesundheitsministerium mit zwei Millionen D-Mark gefördertes Forschungsprojekt aus dem Jahr 1995 zu Brustkrebs. Von dem nämlich lasse sich „heute nichts mehr finden“, so der Vorwurf. Lauterbach, damals 32, habe sich in seiner Bewerbung als Leiter der unauffindbaren Studie bezeichnet. Die Bewerbungsunterlagen hatten die Rechercheure im Archiv der Universität Tübingen eingesehen. Doch weder die Uni noch das Gesundheitsministerium konnten ein derartiges Projekt in ihren Daten finden; auch die Universität zu Köln, bei der sich Lauterbach ebenfalls bewarb, fand nichts. Und sogar die von der Zeitung angeblich befragte Leiterin des Tumorzentrums Aachen, Angela Spelsberg – Exfrau von Karl Lauterbach und damals seine Kollegin – soll sich angeblich an keine derartige Studie erinnert haben.

Es war ein Universitätsbibliothekar in Stuttgart, Bernd-Christoph Kämper, dem diese Lücke keine Ruhe ließ. „Dass es zu einem vom Bund mit zwei Millionen DM geförderten Projekt ‚Qualitätssicherung in der Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms‘ heute keine Unterlagen mehr geben soll, ist sehr, sehr merkwürdig“, twitterte Kämper alias „Basso Continuo“ am 13. März. „Wer soll das glauben?“

Und so gelang dem Mann, was weder Ministeriale noch Uni-Archivare schafften: Er fand in einer Tumordokumentation aus dem Februar 1996 die 15-seitige Beschreibung einer vom BMG geförderten Feldstudie aus Aachen. Titel: „Eine prospektive Studie zur Epidemiologie und Qualitätssicherung in der Prävention und Therapie des Mammakarzinoms“. Darunter sechs Autorennamen. Der erste: „Lauterbach K.W.“, der zweite „Spelsberg, A“. Korrespondenzadresse: „Prof. Dr. Christian Mittermayer“ – just der Mittermayer, der damit zitiert wird, ihm sei geraten worden, zu Lauterbachs Bewerbung gar nichts zu sagen.

Mittermayer, seit 20 Jahren emeritierter Pathologe der RWTH Aachen, wundert sich über die Aussage sehr. „Wo bin ich damit zitiert?“, fragt er am Telefon irritiert. An das Forschungsprojekt erinnere er sich nämlich gut, auch an die Rolle von Karl Lauterbach und dessen damaliger Frau. Vor allem aber an die bahnbrechenden Folgen der Forschung, die diese beiden vorangetrieben hätten. „Deshalb gibt es jetzt das Brustkrebs-Screening für Frauen ab 50 Jahren“, sagt Mittermayer. „Wenn Karl Lauterbach und Angela Spelsberg sich je fragen würden, was habe ich in meinem Leben Nützliches gemacht, würde ich sagen: Das war wirklich etwas Ordentliches.“

Drittmittelbeschaffung – „für Außenstehende ein vollständiges Geheimnis“

Zu seiner Rolle bei der Drittmittelbeschaffung sagt der Pensionär dann noch, dass dieses Thema „für Außenstehende ein vollständiges Geheimnis sei“. Auf jeden Fall müsse bei so einem Forschungsprojekt am Ende ein „Head of Department“ firmieren, „um die Bonität des Ganzen zu garantieren“. Deshalb firmierte er, denn das junge Tumorzentrum Aachen sei seiner Pathologie der RWTH angegliedert gewesen.

16,5 Millionen D-Mark investierte der Bund damals in die große Verbundsforschung zu Brustkrebs, verteilt auf acht Krebszentren. Eins davon: Aachen. Den Beleg dafür hat der Stuttgarter Bibliothekar aufgetrieben.

Beide Universitäten, an denen Lauterbach sich Mitte der 90er-Jahre bewarb, beriefen diesen zum Professor; dem Ruf nach Köln folgte er. Beide Hochschulen beteuern heute, weder die angeführten Studien noch die damit verbundenen Drittmittel seien im Auswahlverfahren entscheidend gewesen. Genau das unterstellen nämlich die Kritiker: Lauterbach habe während des Bewerbungsprozesses in Tübingen in Aussicht gestellt, Drittmittel einzubringen – und die mittellose Uni habe das beeindruckt.

Für seinen Ruf nach Köln, wo der in Harvard qualifizierte Gesundheitsökonom bis heute Professor ist, hatte Lauterbach der Uni-Sprecherin Elisabeth Hoffmann zufolge tatsächlich Mittel zur Finanzierung seiner Professur aufgetrieben: von einer Stiftung. Als diese am Ende doch absprang, entschloss sich das Land Nordrhein-Westfalen, den neuen Lehrstuhl zu finanzieren. „Es war eine der ersten Professuren für das neue Fach in Deutschland“, so Hoffmann. „Die Relevanz dieser Entscheidung zeigt sich daran, dass es heute mehr als ein Dutzend Professuren für Gesundheitsökonomie gibt.“ Lauterbach sei der überzeugendste Aspirant gewesen. Schon weil er einer der wenigen war, der Public Health im Ausland studiert hatte, an einer der renommiertesten Hochschulen der Welt.

Am 12. Mai 1995 hat der junge Doktor das Forschungsprojekt höchst selbst vorgestellt, fand der eifrige Bibliograf heraus, bei einem Brustkrebskongress in New Jersey. Den Titel seines Funds leitete Kämper an Thomas Kubo weiter: an den Mann, der die Recherchen angestiftet hat. Kubo zeigt seit der Pandemie einschlägiges Interesse an Lauterbach; sein neues Werk über den Gesundheitspolitiker heißt: „Apokarlypse. Kernschmelze im Panik-Reaktor“. Darin Sätze wie: Lauterbach „labert von ‚Corona-Toten“. Das Vorwort stammt von einem Werner Rügemer, der sich über Lauterbachs angeblich opportunistische Nähe zum Kapital ergeht und an anderer Stelle im Netz zuletzt als Putin-Apologet auftrat.

Aufgrund Kämpers Hinweis bat Hobbyrechercheur Kubo die NJ State Library um die Kongress-Unterlagen von 1995. Die kamen flugs. Auf Seite 46 bis 48: ein Beitrag von „Karl Lauterbach, MD, MPH, Senior Scientist, Technical University Aachen, Adjunct Instructor, Harvard University of Public Health“. Wenn man ihn liest, meint man, schon den heutigen Politiker zu hören. „Ein Gipfel wie dieser“, lobt Lauterbach da, „wäre in Deutschland unwahrscheinlich, wo gesundheitspolitische Entscheidungen normalerweise medizinischen Experten vorbehalten sind und von der Regierung entschieden werden, mit wenig Beteiligung der Öffentlichkeit.“ Die aus Sicht des Autors womöglich lebenswichtigen Brustkrebsscreening-Programme würden in Deutschland noch „heiß debattiert“. Das Bundesgesundheitsministerium immerhin, habe dazu eine Studie in Auftrag gegeben – an der er, Lauterbach, beteiligt sei.

Kronzeuge Professor Alan Cohen von der University Boston empört

Als weiteren Kronzeugen wider den heutigen Bundesgesundheitsminister zitieren die Kritiker Professor Alan Cohen von der Boston University Questrom School of Business. Cohen habe ihnen zufolge erklärt, Lauterbach habe damals bei einer von ihm geleiteten Studie lediglich „geholfen“. Die „Studienmitleitung“, die Lauterbachs Biographie auswies, wäre demnach falsch.

Cohen zeigt sich auf Nachfrage empört. Er habe gegenüber den Rechercheuren deutlich gemacht, schreibt der Forscher, dass Lauterbach zwar nicht „Co-Direktor“ der inkriminierten Studie gewesen sei, wohl aber „Co-Forscher“. Als solcher habe dieser „wichtige intellektuelle Einsichten“ geliefert. Einen „Co-Leiter“ habe es gar nicht gegeben. Das Fehlen dieses Titels mindere den Wert von Lauterbachs Beitrag nicht. „Ich hoffe“, so Alan Cohen, „Sie können den Sachverhalt durch das Einfügen dieser Nuancen richtigstellen.“

Anmerkung der Redaktion: Wir haben nachträglich die Beleg-Dokumente zum Lauterbach-Spelsberg-Forschungsprojekt an den betreffenden Stellen im Text verlinkt.

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