Amina Mohammed, die stellvertretende UN-Generalsekretärin, wollte es genau wissen. Und flog Ende vergangener Woche nach Kandahar, in die Hochburg der afghanischen Taliban. Doch die ließen sie abblitzen: Der Emir, das geistliche Oberhaupt, hatte keine Zeit, der Provinz-Gouverneur auch nicht. Dessen Stellvertreter ließ sich schließlich zu einem Tee-Gespräch herab.
Mit leeren Händen reiste Mohammed wieder ab. Und war genauso ratlos und enttäuscht wie die gesamte internationale Gemeinschaft. Auch Martin Griffiths, Chef des UN-Hilfswerks OCHA, der unmittelbar danach eintraf, kam nicht weiter. Er hatte schon vorher die Lage im Land mit „a messy mosaic“ umschrieben. International fahnden Regierungen und Hilfswerke nach einer Strategie, wie dem Land noch zu helfen ist, seit die Taliban an Weihnachten Frauen das Arbeiten untersagt haben. Nur Gesundheitsprojekte und die UN-Organisationen sind – noch – vom Bann ausgenommen.
Der Alleingang kam im BMZ gar nicht gut an
Innerhalb der Bundesregierung ringen Auswärtiges Amt (AA) und Entwicklungsministerium (BMZ) um einen abgestimmten Kurs. Als ob nicht alles kompliziert genug wäre, ist der alte Konflikt zwischen beiden Häusern wieder aufgeflammt. Die einen sind für die Nothilfe zuständig, zuletzt 330 Millionen Euro jährlich für Afghanistan, die anderen für Entwicklungsprojekte. Und manchmal sind die Grenzen auch fließend.
Kaum hatten die Taliban den Bann verhängt, suchte das Auswärtige Amt – ohne das BMZ einzubeziehen – den Kontakt zur UN, um im Windschatten der Weltorganisation weiter humanitäre Hilfe abwickeln zu können. Der Alleingang kam im BMZ gar nicht gut an; trotzig verkündete Ministerin Svenja Schulze (SPD) den vorläufigen Stopp aller Projekte. Der ist inzwischen wieder aufgehoben; zu groß ist vor allem die Not der Frauen. Also ist das BMZ vor allem in für Frauen so wichtigen Gesundheitsprojekten wieder aktiv. Die Verärgerung aber bleibt.

Und das, obwohl beide Häuser ein gemeinsames Problem haben: Sie wollen Hilfe leisten und können nicht. Mehr an Ohnmacht und Dilemma geht nicht. Zudem gibt es keine wirkliche Opposition im Land, die eine Unterstützung wert wäre. Ist es unter diesen Umständen richtig, die Hilfe vollständig einzustellen – was die ohnehin Ärmsten am härtesten treffen würde? Oder ist es sinnvoller, sich mit den Taliban zu arrangieren? Gar die Botschaft wiederzueröffnen, wie manche empfehlen? Im AA sind die Diplomaten nicht sehr optimistisch. Sie haben die 90er-Jahre und die damaligen Zusagen der Taliban nicht vergessen – die seinerzeit kurz darauf nichts mehr wert waren.
Beenden will gleichwohl auch das AA seine Hilfen nicht. Aber die Geduld scheint inzwischen limitiert. Die Hausleitung denkt über ein deutliches Signal in Richtung Kabul nach: „Das Handeln der Taliban in Afghanistan hat Konsequenzen“, war eine der Botschaften in den sozialen Medien. Es ist offensichtlich, dass die von der Ministerin proklamierte feministische Außenpolitik in Afghanistan auf dem Prüfstand steht wie nirgendwo sonst. Die Lage wird nicht einfacher dadurch, dass die Taliban internationaler Druck weitgehend kaltlässt.
Stattdessen drehen sie immer weiter an der Schraube. Nun also das Arbeitsverbot, nachdem zuvor schon den Mädchen der Schulbesuch, dann den Studentinnen das Studieren verboten worden war. Zugleich verschärft sich die Not im Land weiter. Eine Kältewelle mit vielen Toten rollt über die Region. Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung (40 Millionen Menschen) ist auf Hilfe angewiesen. Dafür sorgten bisher rund 80 internationale und 100 lokale NGOs. Die suchen seit Weihnachten verzweifelt nach Möglichkeiten, Bedürftigen Lebensmittel und häufig auch Bargeld weiter zielgenau zukommen zu lassen – ohne dass religiöse Lokalgrößen die Steuerung übernehmen.
Viele Hilfswerke haben die Arbeit ausgesetzt. Denn sie alle sind betroffen. Frauen stellen über ein Viertel der rund 55.000 bezahlten Helfer im Land. Caritas international, mit rund 300 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Afghanistan tätig, hat die betroffenen eigenen Frauen erst einmal ins Home Office geschickt. „Wir werden vorläufig niemanden entlassen“, sagt Vorsitzender Oliver Müller.
„Es herrscht eine riesengroße Verwirrung“, heißt es bei der Deutschen Welthungerhilfe, die ihre Projekte ebenfalls eingestellt hat. Alleinstehende Frauen etwa, gegebenenfalls auch ihre Kinder, seien ohne weibliches Personal nicht mehr erreichbar. „Ohne die Frauen geht es nicht“, sagt auch Caritas-Mann Müller. Nur die Vereinten Nationen arbeiten weiter mit weiblichem Personal. Ihre Organisationen sind von dem Bann ausgenommen, vorläufig jedenfalls.
Die NGOs suchen fieberhaft nach einem Ausweg und nach Möglichkeiten, ihre Mitarbeiterinnen weiter bezahlen zu können. Da immerhin will die Bundesregierung „vorläufig“ helfen. Einzige Hoffnung: Die Taliban sind sich keineswegs einig in ihrer Strategie. Innerhalb der Regierung nicht, und auch regional wird der Bann mit unterschiedlicher Konsequenz verfolgt. Derzeit allerdings geben überwiegend Hardliner den Ton an. „Man sollte deren Differenzen nicht überbewerten“, heißt es denn auch innerhalb der Bundesregierung.
Konkret sieht das so aus: In nicht wenigen NGO-Büros erschienen bewaffnete Taliban-Vertreter und mahnten den Rauswurf der Frauen an. Anderswo legten sie den Hilfswerken nahe, einheimische Frauen durch jobsuchende Männer zu ersetzen, oder sie schrieben bei Cash-Programmen für Frauen Männer in die Empfängerlisten.

Was also tun? Es wird viel telefoniert in Europa in diesen Tagen. Die Möglichkeiten der Einflussnahme sind begrenzt, und doch erhoffen sich die internationalen Hilfswerke Beistand, nicht zuletzt aus Berlin: „Deutschland ist Taktgeber in Europa und müsste eine führende Rolle übernehmen.“
„So eine Situation gab es noch nie“
Zumal auch das Trauma des überhasteten Abzugs vor eineinhalb Jahren noch nachwirkt. Annalena Baerbock hat vor kurzem wieder einen Sonderbeauftragten entsandt, den erfahrenen Erik Kurzweil. Er hat sich viele Jahre lang von Berlin und Kabul aus mit Afghanistan beschäftigt und war zudem mehrere Jahre Leiter des Krisenreaktionszentrums im Auswärtigen Amt. Kurzweil ist nicht nur krisenerprobt, seine Berufung ist auch ein Hinweis für die Bedeutung, die das Amt dem Thema beimisst.
Das BMZ versucht zumindest einen Teil seiner Basisprojekte weiter zu führen. „So eine Situation gab es noch nie“, bekennt ein Sprecher und spricht von einem „gravierenden Einschnitt“. Sein Ministerium versuche genauso wie alle anderen Regierungen, Ministerien, Hilfswerke und Organisationen, die Spielräume auszuloten, in denen Projekte mit Frauen noch möglich sind. Das BMZ hat sieben Millionen Euro bereitgestellt, um damit 5.000 afghanischen Frauen durch Stipendien ein Studium in den Nachbarländern zu ermöglichen. Es ist ein Weg, den Bann zu umgehen. Das Ministerium spricht von viel positiver Resonanz und einer hohen Nachfrage.
Derweil machen die Mullahs und ihre Helfer unverdrossen weiter: Entsandte Frauen ausländischer Hilfswerke berichten von zunehmenden Schwierigkeiten bei der Visa-Vergabe. Die systematische Frauen-Verachtung, so scheint es, hat ihren Höhepunkt in Afghanistan womöglich noch gar nicht erreicht.