

Nancy Faeser plädiert dafür, die Asylverfahren für Flüchtlinge an die EU-Außengrenzen zu verlegen. Die Idee ist nicht neu und hochumstritten. Warum macht Faeser das?
Das ist weder ein Tabu- noch ein Durchbruch. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, unter Druck eine Alternative zum gegenwärtigen Status Quo zu präsentieren, bei dem die irreguläre Migration über das Mittelmeer entweder nicht oder durch illegale Gewaltanwendung reduziert wird. Das Ziel ist das richtige, aber die Reihenfolge ist falsch.
Welcher Schritt müsste dem Aufbau solcher Zentren vorausgehen?
Wenn man irreguläre Migration ohne Gewalt und ohne Abschreckung durch unmenschliche Behandlung reduzieren will, geht das nur durch Rückführungen nach Verfahren. Sonst ist es Gesetzesbruch.
Die scheitern oft an der Weigerung der Herkunftsländer, die Menschen zurückzunehmen. Wie soll Faeser da etwas erreichen?
Genau. Daher braucht man zunächst Verhandlungen. Migrationsdiplomatie, Einigungen, bevor schnelle Grenzverfahren Sinn ergeben. Das Konzept der Ampel ist, mit Staaten wie mit der Türkei 2016 zu verhandeln, dass sie Leute zurücknehmen. Hier liegt die Herausforderung. Jedes EU-Land kann bereits jetzt schnellere Asylverfahren machen, solange sie fair sind. Österreich hat viele Asylverfahren, die viel kürzer als in Deutschland sind. Trotzdem gab es dort 2022 mehr als 110.000 Asylanträge, und Österreich vergab auch pro Kopf mehr Schutz als jedes andere EU-Land. Schnelle Verfahren sind nicht gegen die Flüchtlingskonvention. Verfahren an der Grenze auch nicht. Aber ohne Herkunftsländer, die ihre Staatsbürger zurücknehmen, oder sichere Transitländer bringen schnellere Verfahren nichts.
In den vergangenen Jahren sind nicht nur Deutschland, sondern auch Ländern wie Italien, Spanien oder Frankreich wenige Abschiebungen gelungen, weil viele Herkunftsländer sich schlicht weigern. Was könnten die EU-Staaten den Rücknahmestaaten anbieten?
Wir haben ein Pilotprojekt mit Gambia vorgeschlagen. Niemand kann realistisch glauben, dass Deutschland die Anzahl der Abschiebungen verzehnfachen wird. Mit großem Druck in diesem Moment wird Gambia 2023 vielleicht ein paar hundert Leute zurücknehmen. 2022 kamen gleichzeitig 900 Gambier neu in Italien an. Das Ziel sollte es sein, durch Kooperation irreguläre Migration zu stoppen. Zu verlangen, dass ein Land sofort alle verurteilten Straftäter zurücknimmt, und ab einem Stichtag dann schnell alle, die keinen Schutz erhalten. Dafür bekommen andere eine Chance zu bleiben. So gibt es legale Wege und jedes Jahr kann sich eine bestimmte Zahl für ein Kontingent bewerben. So kann man aus legaler Mobilität ein positives Instrument außenpolitischer Einflussnahme machen. Das Problem ist, das umzusetzen.
Legale Mobilität als positives Instrument – klingt schön, aber wie sieht dafür der richtige Ansatz aus?
Der Koalitionsvertrag sagt: Irreguläre Migration reduzieren, reguläre Migration ermöglichen und praxistaugliche Abkommen im beiderseitigen Interesse schließen. Die Schwierigkeit besteht jetzt darin, Pilotprojekte zu beginnen. Darüber müsste die ganze Diskussion gehen. Und diese Position ist weder rechts noch links. Aber sie wäre kompatibel mit der Menschenwürde und dem Flüchtlingsrecht. Sozial-, Außen- und Innenministerium könnten zusammen ein Paket erarbeiten und sagen: Irak, Tunesien, Gambia, wir wollen euch helfen, damit es jedes Jahr eine bestimmte Zahl von Menschen legal hierher in den Arbeitsmarkt schaffen. Wir unterstützen Ausbildung für Pflege, für bestimmte Berufe. Es sollte so attraktiv sein, dass dann auch Senegal oder Nigeria sagen, sie wollen mitmachen. Warum reisen Studenten aus Westafrika nach China und in die Golfstaaten und kaum nach Europa? Sie bekommen keine Visa. Für Afrikaner wird es seit Jahrzehnten immer schwieriger, legal nach Europa zu kommen.
Klingt sinnvoll. Warum gehen Länder wie Italien so anders vor?
In Italien herrscht die Wahrnehmung, dass das mit Libyen ganz gut geklappt hat. Dort gab es Einigungen mit der libyschen Küstenwache, und der Geheimdienst verhandelte mit Schmugglern. Die italienische Regierung kämpft derzeit dafür, Tunesien so viel Geld wie möglich zu geben. Egal, was dort demokratiepolitisch passiert, egal, ob der Präsident die Bedingungen des Währungsfonds erfüllen will. Und in Libyen verhandelt sie mit dem Warlord Haftar.
Was kann Deutschland daran ändern?
Warum bieten Deutsche und Italiener nicht gemeinsam Tunesien etwas an, das kein schmutziges Geschäft ist? Etwa legale Arbeitsmigration? Die Perspektive einer Visaliberalisierung bei Erfüllung von Menschenrechtsbedingungen zum Beispiel. In diesem Moment werden dort Dissidenten, Journalisten, Politiker eingesperrt. In Tunesien gibt es aber auch Leute, die sagen: Bitte helft uns, diese irreguläre Flucht unserer Kinder zu stoppen. Junge Menschen sehen auf TikTok Videos anderer aus Rom, dann zahlen sie Geld an Schmuggler und kommen ums Leben.
Stattdessen reden wir jetzt über Asylzentren und Zäune an den Grenzen.
An den Landesgrenzen der EU gibt es schon jetzt Zäune. Es gibt einen Zaun in Ungarn. Seit 2016 hatte Österreich, nördlich des Zauns gelegen, 110.000 Asylanträge. Die wirkliche Frage ist: Finanzieren wir Zäune unter der Bedingung, dass an diesen Grenzen dann auch EU-Recht gilt? Die allermeisten kommen über das Meer in die EU. Da kann man keinen Zaun bauen. Das ist eine Ablenkung von der wirklichen Frage.